: Erste Hilfe für gequälte Kinder
■ Die Techniker Krankenkasse in Bremen stellt jetzt einen Leitfaden zur Prävention von Kindesmisshandlungen vor / Ärzte sollen ebenfalls bei der Aufklärung helfen
Fast ununterbrochen klingelt beim Bremer Kinderschutzbund das Telefon: Rund 800 Anrufe sind jeweils beim Krisentelefon für Kinder und Jugendliche und beim Eltern-Stress-Telefon im Jahr 1998 eingegangen. „In fast 44 Prozent der Fälle stehen körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt im Fordergrund der Gespräche“, berichtet Anke Kirchhof-Knoch vom Landesverband des Kinderschutzbundes Bremen. Und dies ist nur die Spitze des Eisbergs, denn der Bremer Kinderschutzbund ist nur eine der Einrichtungen, an die sich psychisch oder physisch misshandelte Kinder im Land Bremen wenden können.
In Zukunft sollen auch in Bremen die Kinder- und Hausärzte verstärkt in die Früherkennung und Prävention bei Kindesmissbrauch einbezogen werden. Aus diesem Grund erstellte jetzt die Techniker Krankenkasse Bremen in Kooperation mit der Ärztekammer, dem Deutschen Kinderschutzbund und der Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales den Leitfaden „Gewalt gegen Kinder“.
Dieser Sammelband wendet sich in erster Linie an die behandelnden Kinderärztinnen und -ärzte, die häufig als Erste die Spuren der Gewalt bemerken könnten. „Der Leitfaden soll den Ärzten helfen, Anzeichen von Gewalt so früh wie irgend möglich zu erkennen, damit den Kindern und auch den Eltern qualifiziert geholfen werden kann“, erklärte gestern Ursula Auerswald, Präsidentin der Ärztekammer Bremen. Kinderärzte sollten damit lernen, die „stummen Schreie“ der Kinder rechtzeitig zu erkennen und mit dem notwendigen Sachverstand Hilfen für Opfer und Täter anzubieten.
„Wir haben in Hamburg schon 1996 einen Leitfaden herausgegeben und festgestellt, dass sich die Transparenz und Kooperation zwischen den Ärzten und sozialen Einrichtungen wesentlich verbessert hat“, erklärt Jürgen Schmetz, Kinderarzt aus Hamburg. Um die Zusammenarbeit zu verbessern, informiert der Leitfaden über rund 200 regionale Hilfseinrichtungen für misshandelte Kinder und Angehörige sowie über Beratungsmöglichkeiten für niedergelassene Ärzte und Ärztinnen in Bremen und Bremerhaven.
Die Mithilfe der Ärzte könnte nach Auffassung der Herausgeber auch dazu führen, die hohe Dunkelziffer der Kindesmisshandlungen zu verkleinern. „Allein im Bereich der Stadt Bremen werden jährlich zirka 150 Fälle sexuellen Miss-brauchs bei Kindern unter 14 Jahren angezeigt, über die Dunkelziffer lässt sich nur spekulieren“, berichtet Werner Meyer von der Bremer Kriminalpolizei. „Im Bereich der Gewalt gegen Kinder kommen in der Stadt Bremen jährlich zirka zehn Fälle zur Anzeige“, ermittelte die Polizei.
2.000 erfasste Fälle von Kindesmisshandlung weist die bundesdeutsche Kriminalstatistik jährlich aus, 15.000 angezeigte Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern kommen noch dazu. Mehr als die Hälfte der Kinder ist jünger als 6 Jahre. „Wir können davon ausgehen, dass auf einen erkannten bis zu 50 unerkannte Fälle kommen“, berichtet Anke Kirchhof-Knoch vom Kinderschutzzentrum. „Die meis-ten Misshandlungen finden zu Hause statt und werden als Privatsache abgetan, hier müssen wir noch viel Aufklärungsarbeit leisten – dabei können uns die Ärzte helfen.“
BD
Der Leitfaden „Gewalt gegen Kinder“ Früherkennung, Handlungsmöglichkeiten und Kooperation über die Ärztekammer Bremen zu beziehen.
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