Hundert Prozent Kohl

Im thüringischen Gerstengrund gibt es keine Krise: gestern Kohl, heute Kohl, morgen Kohl. Warum mit dem Mann brechen, der einen einst über den Zaun hob? Dorfansichten ■ Von Jens Rübsam

Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik ist es so gut bestellt um die CDU wie im thüringischen Rhön-Flecken Gerstengrund. Zustimmung gestern, Huldigung heute, Wertschätzung morgen – ewiger Beistand für die Union, erst recht in gott- und kohllosen Zeiten wie diesen. Feuriger Beifall ist Amtsherr Antonius Schütz dieser Tage gewiss, wenn er seinen Bürgern, sechsundsechzig links und rechts der Dorfstraße, versichert: „Irgendwann werde ich Helmut Kohl zu uns einladen.“ Mag geschehen, was will.

Wie ein Ei im Ostergras versteckt, sitzt die Ortschaft Gerstengrund inmitten von Hügeln, hier türmt sich der „Roßberg“, da wuchtet der „Hochrain“, gleich hinterm Wald liegt Hessen. Wie zäher Schmelz ergießt sich die Dorfstraße vom Kuhstall Schütz am Dorfeingang zum Kuhstall Schwert am Dorfausgang. Dazwischen ein Dutzend geputzter Bauernhäuser und, auf einer Weggabelung, das weiße Kapellchen „Maria Hilf“, das so streng mahnt wie ein Leuchtturm in den Dünen. Ein Trecker tuckert vorbei, ein Kater trottet über den Teer. Der Hund ist in Gerstengrund begraben.

Die Nachricht von einem anderen Trauerfall kommt an diesem Tag im Fernsehen. „Die CDU-Führung“, sagt eine Sprecherin, „fordert Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl auf, den Ehrenvorsitz ruhen zu lassen.“ Stunden später ergänzt sie: „Helmut Kohl hat den Ehrenvorsitz der CDU niedergelegt.“ Allmählich zieht in Gerstengrund die Dunkelheit ein.

Bei Lichte betrachtet: Diese Gerstengrunder sind die Sonderlinge der Republik, Querschläger zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik, Außenseiter in Zeiten der Bundesrepublik. Einst wählten sie aus Trotz und in festem Glauben geschlossen die CDU, die Freunde von der Blockpartei. Heute wählen sie erst recht und in festem Glauben geschlossen die CDU, die als Mafiosi geächteten Unionschristen.

Als am 12. September vergangenen Jahres in Thüringen zur Landtagswahl gerufen wird, melden tags darauf sogar die überregionalen Zeitungen: „In Gerstengrund lief es hundertprozentig“. Wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, könnten die Redaktionen am Montag Gleiches titeln. Fast scheint es, die Gerstengrunder hätten ihr Ehrenwort gegeben: „Wir bleiben die ,Hundertprozentigen‘ “! Die Hunderprozentigen der CDU.

„Helmut Kohl“, sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte, „ist für die Menschen in Ostdeutschland eine Symbolfigur.“ Noch immer verkörpert der einstige Bundeskanzler den starken Entscheider und den angesehenen Chef, erfüllt er die Sehnsucht nach kraftvoller Führung, nach Geborgenheit und nach Patriarchalstrukturen. Wer mit den Gottgleichen im Land – Honecker (SED), Götting (CDU) und Gerlach (LDPD) – in die Jahre kam und vom gewaltigen Pfälzer Kohl über den Stacheldraht gehievt wurde, ist vom Wege der autoritären Orientierung so leicht nicht abzubringen.

Es ist einer dieser Abende, an denen der Gerstengrunder Bürgermeister und Landwirt Antonius Schütz, 43, vom Schaffen spät nach Hause kommt und CDU-Ortschef und Heizungsmonteur Manfred Schuchert, 40, auf einen Anruf aus der Firma wartet: Werde ich morgen gebraucht? Einer dieser Abende, an denen der eine am liebsten nach der Tagesschau auf dem Sofa einnicken möchte und der andere am liebsten einen Auftrag sicher wüsste.

Schwarze Konten? Und schwarze Koffer? Gesetzesbruch? Und eventuell Bestechung? Jüdische Vermächtnisse? Und ein zweifelhaftes Ehrenwort? Was für Fragen, viertel nach acht!

„Wer den ganzen Tag hart zu arbeiten hat“, sagt Schütz, „hat abends keine Zeit, sich mit so etwas zu beschäftigen.“ – „Warum“, fragt Schuchert, „soll ich mir darüber Gedanken machen?“ Die Herren über Gerstengrund winken müde ab. Frau Schuchert offeriert gekühlte Orangenlimonade.

Alle spinnert? Seit Wochen in den Zeitungen nichts anders als Spendensumpf und Parteienkrise. Schäuble und Merkel werden so oft zitiert wie sonst nur lokale Polizeisprecher, die jede Kollision zweier Blechkisten auf der Kreisstraße erklären müssen.

Wer aber durch die neuen Länder fährt, hört Bürger maulen: „Lassen Sie mich damit in Ruhe.“ Hin und wieder vernimmt man: „Wer noch mal ist Kanther? Wer noch mal ist Weyrauch?“ Bekannt ist Kohl, immer und überall, ins Stolpern aber gerät der Ostdeutsche schon über Helmuts Nächste.

Erklärt werden muss den Jung-Bundesbürgern, was das Parteiengesetz ist, was es vorschreibt und was es verbietet, was Ander- und was Schwarzkonten sind und manchmal auch, wo Liechtenstein liegt. Erläutert werden muss nicht, was Urlaubsflüge und was Firmenjets sind und wo Sylt aus dem Meer lugt und was das Wort Privilegien bedeutet. Das amüsiert insgeheim die CDU und verschnupft öffentlich die SPD.

Die Zufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik ist im Osten sehr viel niedriger als im Westen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Manuela Glaab. Noch hat sich keine emotionale Bindung zum Staate Bundesrepublik eingestellt. Noch herrscht zum hiesigen System kein Vertrauen, das auch Krisen abfedern kann. „Nicht nur die CDU, alle Parteien haben doch Dreck am Stecken“, sagen sie.

Im schönen Gerstengrund, Haus Dorfstraße 9, hängen Hausherr Manfred Schuchert und Besucher Antonius Schütz wie kleine Jungs in einer wuchtigen Couchgarnitur.

Schütz: „Über Kohl kann ich nichts Negatives sagen.“

Schuchert: „Ich auch nicht. Er hat uns die Wende gebracht. Er ist eine große Persönlichkeit.“

Schütz: „Was anderes wäre es gewesen, wenn er in die eigene Tasche gewirtschaftet hätte.“

Schuchert: „Parteispenden nicht verbucht? Einen Skandal kann ich darin nicht sehen.“

Schütz: „Wenn jemand sechzehn Jahre ein Schiff rudert, dann muss man ihm Zugeständnisse machen. Jeder macht Fehler. Fehler sind menschlich.“

Schuchert: „Für Schröder ist das Ganze jetzt ein Segen.“

Schütz: „Was wirklich schlimm ist: Wenn ein Bundeskanzler viermal verheiratet ist.“

Schuchert: „Ganz genau, Toni.“

Schütz: „Moralisch sind wir in Deutschland sowieso am Boden. Mit dem Fernsehen kommt der Teufel ins Haus: Mord und Totschlag schon am Nachmittag. Und der Schröder geht viermal aufs Standesamt.“

Schuchert: „Wissen Sie, bei uns im Dorf geht man noch jede Woche zur Kirche.“

Schlag sechs am anderen Morgen scheppern die Glocken am stählernen Turm, der neben dem Kapellchen stolz wie der Eiffelturm in die Höhe ragt. In den Kuhställen herrscht tüchtiges Gewusel, um halb sieben kommt das Milchauto. Der Schulbus fährt ein, und dann, so ab halb acht, versinkt Gerstengrund wieder in selige Ruh’ – bis ungefähr halb zehn, bis der Rhön-Bäcker hupt und die Frauen zum Brotkauf eilen.

Gerstengrund, unbewohnbar wie der Mond – das galt bis 1989, als die Ortschaft nichts weiter war als ein Konglomerat aus elf Häusern und genauso viel Ställen im Sperrgebiet, umzingelt von bewaffneten Organen. Es war die Zeit, als niemand Haus- und Autotür abzuschließen brauchte, als jedermann prächtiges Vieh im Stall stehen hatte, als ein Liter Milch noch eine Mark zwanzig einbrachte und ein Zehn-Zentner-Bulle 12.000 Mark, als man sich abends um sieben im Konsum „auf einen Schlager“ traf, als Josef Trabert noch Bürgermeister war, selbstverständlich mit CDU-Parteibuch.

Josef Trabert ist ein alter Mann, 78 Jahre. Einer, der die CDU im Ort 1952 mit gegründet, mit aufgebaut und zu einer Hundert-Prozent-Partei gemacht hat. Wer hätte gedacht, dass es ihm einmal mehr Spaß machen würde, in der blassen Ortschronik zu blättern, als über seine Mitgliedschaft in der CDU nachzudenken.

Lustig tänzeln die Mundwinkel, wenn Josef Trabert heute nachliest – 1947: Josef Trabert wird zum Bürgermeister ernannt, Gehalt: 24 Mark; 1980: Beschwerde an eine staatliche Kommission, der Grund: Der Empfang des DDR-Fernsehens im Ort ist schlechter geworden.

Zwanzig Jahre später wäre der alte Trabert froh, wenn das Gerät mucken würde. Zu schlecht sind die Nachrichten dieser Tage. Heute muss er mit ansehen, wie die einen CDUler aufatmen, nachdem der andere CDUler schnaufend aus dem Ehrenamt gezogen ist.

Ich muss mich bloß noch ärgern“, sagt Josef Trabert.

Worüber?

„Ich habe den Helmut Kohl ja auch anders eingeschätzt.“

Wie denn?

„Als einen ehrlichen Mann.“

Und jetzt?

„Wenn ich mir angucke, was unsere Prominenz hatte: dieses Wandlitz. Doch Wandlitz ist ja nichts gegen das, was sich die Politiker heute beiseite schaffen.“

Werden Sie wieder christdemokratisch wählen?

„Freilich. Bei mir wird nichts mehr anders werden.“

Der alte Trabert begleitet zur Tür, zeigt auf eine Glocke unterm Scheunendach, die alte Gottesglocke, zentnerschwer. Noch vor acht Jahren hing sie an seinem Haus Dorfstraße 8, wurde von ihm dreimal am Tag geschlagen, und mittwochs und sonntags extra, zum Gottesdienst. Dann kam der Bischof und weihte den stählernen Glockenturm ein – und irgendwie war das das deutlichste Zeichen für die neue Zeit in Gerstengrund.

Jetzt müssen die Haus- und Autotüren abgeschlossen werden. Jetzt müssen die Bauern Strafen zahlen, wenn sie zu viel Milch liefern. Jetzt bringt eine Bulle gerade mal 2.000 Mark ein. Jetzt gibt es keinen Konsum mehr, dafür ein paar arbeitslose Frauen.

Aber: Wohlstand links und rechts der Dorfstraße. Jeder hat ein Haus, jeder hat Geld. „Wir haben keine Sozialfälle“, sagt Traberts Nachfolger Antonius Schütz. Gibt es Probleme im Dorf, tritt sonntags, flugs nach dem Gottesdienst, der Gemeinderat zusammen. Fast jedes Haus ist im Gemeinderat vertreten – und nur so ist zu erklären, warum es in dreizehn Jahren kommunaler Beschlussfassung nur ein einziges Mal eine Gegenstimme gab.

Still ist es an diesem Abend in Gerstengrund. Im Kapellchen „Maria Hilf“ kniet, fast geschlossen, die Dorfgemeinschaft vor dem Jesu-Kreuz und betet zur Jungfrau Maria. Geheim bleibt, ob jemand um Frieden in der Partei bittet. Zuzutrauen wäre es dem einen oder anderen. Nötig wäre es gewiss. Denn im fernen Westen braut sich neues Unheil zusammen. Hier grollt ein alter Mann: „Ich kämpfe um meine Ehre.“