: Ein zu langer Moment
■ Zweijähriges Kita-Kind auf dem Spielplatz tödlich verunglückt: Gericht spricht zwei Erzieherinnen der fahrlässigen Tötung schuldig. Eltern forderten deutliche Strafe
Sichtbar ist die Barriere nicht. Sie wird durch Blicke errichtet, die sich meiden. Sie hatten ein Vertrauensverhältnis, die Kindergärtnerinnen links, die Eltern des kleinen Azmi rechts. Jetzt sind aus ihnen Angeklagte und Ankläger geworden. Angeklagte, die beteuern, die Kinder ihrer Wilhelmsburger Kita-Gruppe fürsorglich beaufsichtigt zu haben. Eltern, die ihnen vorwerfen, schuld am Tod ihres Sohnes zu sein.
Es ist gegen elf Uhr am 9. Dezember 1997, als die Erzieherinnen Gabriele B. und Martina B. ihre Gruppe vom Spielplatz wieder ins Haus bringen wollen. 18 Kinder gehörten dazu, beim Durchzählen fehlt eins. Martina B. findet Azmi auf der Rutsche. In einem unbeobachteten Moment war der Zwei-jährige hingelaufen, raufgeklettert, mit einer Anorakkordel hängen geblieben und erstickt.
Wie lang dieser Moment war, entscheidet den Prozess. Kurz, sagen die Angeklagten. Vier bis fünf Minuten, die Gerichtsmedizinerin. Zu lang, findet der Anwalt der Eltern.“ Auf jeden Fall hätten die Erzieherinnen ihre Aufsichtspflicht verletzt, urteilt die Richterin des Harburger Amtsgerichtes, und: „Sie sind schuld am Tod des Kindes.“ Ihnen das mit auf den Weg zu geben, ist der Richterin wichtig und Strafe genug. Die Geldstrafe, die sie ausspricht, müssen die beiden nicht bezahlen, sie wird zur Bewährung ausgesetzt.
„Man kann mit einem Urteil nicht den Tod eines Kindes bemessen“, sagt die Richterin. Aber was kann das Strafrecht überhaupt bewirken in diesem Drama, in dem sich auch für die Kindergärtnerinnen ein Alptraum realisierte? Das deutet sich an, als der Vater von Azmi die Fassung verliert: „Wir haben Ihnen vertraut“, ruft er: „Sie brauchen eine Strafe, an die Sie lebenslang denken.“ Das Bedürfnis der Eltern nach Sühne wird zusätzlich genährt durch das Auftreten der Angeklagten. Deren Nüchternheit irritiert, eigene Zweifel an ihrem Verhalten lassen sie nicht erkennen. Sie arbeiten heute noch in derselben Kita.
Die Frage nach Unschuld oder Schuld ist nicht einfach zu beantworten. Zwei Kolleginnen fehlten an dem Tag, Gabriele B. und Martina B. waren allein mit 18 Kindern. „Wir sind alle verantwortlich“, sagt ein Abteilungsleiter des Trägers Arbeiter-Samariter-Bund. Andere Kindergärtnerinnen im Zuschauerraum nicken zustimmend. Eben weil die Erzieherinnen nur zu zweit waren, hält der Staatsanwalt dagegen, „hätten Sie darauf verzichten müssen, mit den Kindern rauszugehen“. Elke Spanner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen