: Proteste werden per E-Mail organisiert
Gegen die täglichen Anti-Haider-Demos ist Österreichs Polizei machtlos. Sie vermutet deutsche Berufsdemonstranten am Werk
Die Protestbewegung in Österreich ist originell und erfinderisch. Die Demonstranten tauchen wie aus dem Nichts auf. Es gibt keine zentrale Koordination, kein Komitee, keinen Hauptverantwortlichen für die unangemeldeten Proteste. Im Zeitalter der elektronischen Medien werden die Demos via E-Mail binnen kürzester Zeit zusammengetrommelt. Es gibt auch Web-Adressen: http://gegenschwarzblau.cjb.net ist nur eine Site, die über Ort und Zeit der nächsten Proteste informiert. Wer will, kann sich die Demo-Infos über eine Kurzmitteilung (SMS) auf das Display seines Handys übermitteln lassen. Die Staatspolizei hat noch keine Handhabe gegen die Betreiber der Web-Seiten gefunden. Demo-Ankündigungen finden sich auch in Gästebücher beliebter Internet-Seiten, etwa beim ORF-Jugendsenders FM 4.
Die Proteste gegen eine Regierungskoalition der konservativen ÖVP und der rechtsextremen FPÖ begannen am 1. Februar. Eine Handvoll Demonstranten nahm die ÖVP-Zentrale in Wien friedlich ein und hielt sie über Nacht besetzt. Am nächsten Tag zogen 15.000 Menschen von hier zum Kanzleramt am Ballhausplatz.
Drei Tage später mussten die Minister zur Vereidigung der Regierung durch einen unterirdischen Gang in die Hofburg, weil vor dem Tor die Sprechchöre gegen Schüssel und Haider anschwollen. Am Abend schlugen sich Polizisten mit der demonstrierenden Menge. Letzten Sonntag standen tausende vor dem Sendezentrum des ORF, wo die Klubchefs der Parlamentsparteien über die Regierung diskutierten. Montag marschierten Demonstranten unter Applaus durch den Arbeiterbezirk Favoriten. „Widerstand“ wurde auch auf Transparenten gefordert, die Dienstag den Misstrauensantrag gegen Schüssel unterstützten. Am Donnerstag wurde zehn Minuten die Industriellenvereinigung besetzt.
Die Demos sind für viele ein willkommenes Ventil
Für viele, die wochenlang ohnmächtig die quälenden Verhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP und dann die rasche Einigung von Wolfgang Schüssel und Jörg Haider beobachtet haben, sind die täglichen Märsche ein willkommenes Ventil. Sozialdemokraten protestieren genauso wie Trotzkisten, Umweltbewegte und katholische Menschenrechtsgruppen. Vertreten sind alle Alters- und sozialen Gruppen: von jugendlichen Punks mit fünf Ringen in der Lippe bis zu Rentnern mit Stock.
Die Österreicher seien von deutschen „Berufsdemonstranten“ angestachelt worden, glaubt Erik Buxbaum, Direktor für die öffentliche Sicherheit. Ein Sprecher der Rosa Antifa hat das inzwischen dementiert, genauso wie die angebliche Teilnahme des Schwarzen Blocks, dessen Mitglieder in Deutschland vermummt und bewaffnet protestieren.
Die Österreicher werden derweil aufgerufen, ihren Protest auf Geldscheinen kundzutun. Wie aus den wertvollen Scheinchen durch Parolen wie „Widerstand“ oder „Gegen Rassismus und Haider“ Träger des Protestes werden, ist im Internet nachzulesen: „Der Vielfalt der Slogans ist keine Grenze gesetzt. Die Geldscheine verlieren dadurch nicht ihre Gültigkeit.“
Eine für den 19. Februar geplante Großkundgebung soll mehr als 200.000 Demonstranten auf dem Wiener Heldenplatz versammeln. Für den Schriftsteller Doron Rabinovici von der Demokratischen Offensive ein Pflichttermin: „Jetzt muss sich jeder fragen, wenn ich dort nicht dabei bin, wo ich damals in den 30er-Jahren gewesen wäre.“ Zahlreiche ausländische Politiker und Künstler sollen ihr Kommen angekündigt haben, darunter der französische Filmstar Michel Piccoli.
Die Österreicher sind laut einer Umfrage mehrheitlich gegen die Demos. Die neue Regierung dagegen würde ihre Mehrheit jetzt verlieren. Nach einer Studie des Institutes „market“ hat die ÖVP in der Wählergunst 7,9 Prozent verloren. Die Grünen dagegen würden sich verdoppeln und kämen auf 16 Prozent. FPÖ und SPÖ würde sich nichts verändern. Bei Neuwahlen wäre eine rot-grüne Mehrheit möglich. Ralf Leonhard, Wien
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen