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Im deutschen Boot ist plötzlich ganz viel Platz

■ Kanzler Schröder will 30.000 ausländische EDV-Fachleute holen. Gewerkschaften und Bundesanstalt für Arbeit protestieren

Auf der Cebit geht es nicht nur um Windows 2000 und Handies, die mit dem Internet verbunden sind. Wie beim Wanderzirkus hängen große Plakate über den Messeständen: „Wir suchen Mitarbeiter.“ Vielleicht waren es diese Anschläge, die Gerhard Schröder bei seinem Messebesuch zu demVersprechen verführten, Deutschland werde seine Grenzen für 30.000 Computerspezialisten aus Nicht-EU-Ländern öffnen.

Noch ist die rechtliche Grundlage für die Arbeitskarte unklar. Aber schon ihre Ankündigung stimmt die Computerbranche zufrieden. „Wir brauchen dringend ausländisches Personal“, sagt Werner Senger, Geschäftsführer des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom). Ohne High-Tech-Gastarbeiter befinde sich die Bundesrepublik bereits in einem „ernsthaften Wettbewerbsnachteil“, so Senger.

Der Bitkom hat seine Mitgliedsfirmen befragt. Ergebnis: Mindestens 75.000 Computerspezialisten werden sofort gebraucht. Der Zentralverband der Elektrotechnik und Elektroindustrie schätzt, bis 2002 könnten 300.000 neue Arbeitsplätze in der Software- und Telekommunikationsindustrie entstehen. Doch 1999 schlossen nur 8.000 Informatiker ihr Studium an Universitäten und Fachhochschulen ab, gerade einmal 1.000 Auszubildende legten ihre Prüfung ab und nur etwa 30.000 Arbeitnehmer wurden in diesem Bereich umgeschult oder fortgebildet.

„Wir buhlen weltweit um Arbeitskräfte“, sagt Senger. Firmen, die derzeit für den Produktionsstandort Deutschland Personal aus dem Ausland anheuern wollen, müssen eine hohe Hürde überspringen: „Anwerbestoppausnahmeverordnung“. Hochqualifizierte Ausländer aus Nicht-EU-Staaten dürfen nur in Deutschland beschäftigt werden, wenn wegen ihrer „besonderen Kenntnisse ein öffentliches Interesse besteht“.

Will etwa Softwareentwickler Boris Michailov aus Moskau bei einer kleinen Berliner Firma arbeiten, muss er bei der deutschen Botschaft eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Diese fragt bei der Ausländerbehörde und beim lokalen Arbeitsamt an, ob der Computermann gebraucht wird.

In der Regel dauert diese Prüfung drei Monate, häufig länger. Oft hören die Firmen nur, dass sie die ausländischen Fachleute nicht einstellen dürfen, weil es deutsche Arbeitslose gibt. „Dieses Prüfverfahren ist ein Bermuda-Dreieck und dauert viel zu lange“, sagt ein Mitarbeiter der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck (Grüne).

Gerhard Schröder will die „Red-Green-Card“, wie er die bevorzugte Arbeitserlaubnis nennt, „nicht auf die lange Bank schieben“. Doch bevor Boris Michailov in Moskau die Koffer packen kann, muss in Berlin ein gesetzliches Verfahren für seine erleichterte Einreise gefunden werden. In den nächsten Tagen trifft sich eine Kommission zum Thema. Fachleute von Arbeits-, Innen-, und Forschungsministerium wollen gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern über eventuelle Gesetzesänderungen beraten.

Im Amt der Ausländerbeauftragten kann man sich vorstellen, dass die Bundesregierung nach einem Quotensystem die begehrten Kräfte befristet ins Land holt und auf die Prüfung durch Ausländer- und Arbeitsamt bei der Visaerteilung verzichtet. Dafür müsste lediglich die Anwerbestoppausnahmeverordnung geändert werden.

Für seinen Vorstoß erhält der Kanzler Applaus. „Das ist ein guter Vorschlag“, lobt BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel. Er hofft, dass die Regierung über ähnliche Initiativen auch für andere Branchen nachdenkt. Die mitgliederstarke IG Metall mag Schröders Arbeitskarte nicht. In Deutschland gebe es viele arbeitslose, ältere Ingenieure, die in der boomenden Computerbranche arbeiten könnten. Rückendeckung erfahren die Kritiker bei der Bundesanstalt für Arbeit (BA). Von einem EDV-Fachkräftemangel könne keine Rede sein. Im vergangenen September zählte die BA 32.000 arbeitslose EDV-Fachleute, gleichzeitig waren 12.000 offene Stellen gemeldet. Anfang Januar waren zudem noch 56.000 arbeitslose Ingenieure registriert. In den Augen der Unternehmer geht diese Rechnung nicht auf. Bitkom-Geschäftsführer Senger hält die meisten Arbeitslosen für zu alt, um im Geschäft mithalten zu können. Eine Milliarde Mark gibt die BA in diesem Jahr für Fort- und Weiterbildungsprogramme in der Branche aus. Im Bündnis für Arbeit haben die IT-Unternehmen versprochen, bis Oktober 40.000 Lehrstellen anzubieten, bis heute sind schon knapp 10.000 gemeldet. Senger schätzt aber, dass bestenfalls jeder zehnte Betrieb bereit ist, für Nachwuchs zu sorgen. Selbstkritisch räumt er ein, dass die Branche das Problem vernachlässigt hat. „Wir wussten, dass die Branche wächst, haben aber das Tempo unterschätzt.“ Derweil reagierte der Kanzler auf die Kritik und ergänzte seinen Vorschlag: Nur solche Firmen, sagte er, dürften Fachkräfte importieren, die auch eigene Leute weiterbilden. Annette Rogalla

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