piwik no script img

Inszenierungskunst wie im Spielfilm

James Moll will mit seinem Dokumentarfilm „Die letzten Tage“ Emotionen wecken. Tatsächlich kann hier der Zuschauer problemlos eine stattliche Menge Tränen loswerden

„The Last Days“ von James Moll ist ein Dokumentarfilm über die Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden, den Steven Spielbergs Shoah Foundation produziert hat. „Der Film soll vor allem Gefühle hervorrufen“, erklärte Regisseur James Moll auf der Pressekonferenz im letzten Jahr, als der Film während der Berlinale gezeigt wurde.

Gefühle? Kein Problem. 1944, der Krieg war praktisch schon verloren, hatten die Nazis mit einer geradezu wahnwitzigen Effizienz die jüdische Bevölkerung Ungarns in nur 54 Tagen erfasst, zusammengetrieben und in Konzentrationslager deportiert. Über 600.000 Menschen wurden ermordet. In „The Last Days“ werden fünf Überlebende porträtiert – eine Lehrerin, ein Geschäftsmann, eine Künstlerin, eine Großmutter und ein amerikanischer Kongressabgeordneter. Die Shoah Foundation hat bisher über 50.000 Interviews mit Holocaust-Überlebenden geführt. Aus den Interviews mit den fünf Zeugen aus Ungarn hat James Moll Gesprächsschnipsel übernommen und mit Archivbildern aus den Kriegstagen zusammengefügt, sodass man neben den Einzelschicksalen auch über die Chronologie der Ereignisse in Ungarn informiert wird. Außerdem ist er mit den fünf nach Ungarn und nach Auschwitz gefahren.

Der Zuschauer kann bei diesem Film problemlos eine stattliche Menge Tränen loswerden. Wir sehen, wie eine Frau den Namen ihrer Schwester in den Archiven der Nazis sucht und der Kongressabgeordnete das Konzentrationslager besucht, in das er deportiert worden war. Gefühle sind nie ein Problem. James Moll mochte allerdings nicht darauf vertrauen. Er hat den Film mit Musik unterlegt, „um ihn noch emotionaler zu machen“. Hans Zimmer hat eine klassisch-geschmackvolle leise Cellomusik komponiert, die dem Zuschauer wie das Gebrumm einer lästigen Fliege im Ohr klingt. An einer Stelle sieht man Archivmaterial von einer Massenerschießung in Litauen. Leise Musik. Schweigen. Pistolenschüsse! Die Kamera sieht auf die Toten. Wieder Musik. Es ist absurd. Der Dokumentarfilm wird plötzlich in Fiktion entgrenzt. Die Musik ist Teil einer Inszenierungskunst, die im Spielfilm perfektioniert wurde. Warum sollte die Massenerschießung nicht auch inszeniert sein?

Als ich James Moll in einem Interview während der Berlinale fragte, warum er diese Szenen musikalisch unterlegt hat, verdrehte er die Augen: Wenn die Musik dazu dient, den Film emotionaler zu machen, mehr Leute ins Kino zu locken, was spricht dagegen? Ich meinte dagegen, dass Tränen gar nichts bedeuten. Hitler soll welche vergossen haben, wenn er Wagner hörte. Der Film suggeriert, dass es keine Anstrengung braucht zu verstehen, was damals passiert ist. Man muss nicht mal selbst fühlen. Dafür sorgt schon die Musik. Wir trennten uns in völliger Verständnislosigkeit.

Die Pressekonferenz nach der Vorführung des Films konnte nicht anders als ein Desaster bezeichnet werden: „Ich verstehe nicht, dass es in Deutschland heute noch Menschen gibt, die sich nicht schuldig fühlen“, rief eine Frau, ihren guten Charakter demonstrierend. Eine andere erzählte mit bebender Stimme, wie sie und Renee Firestone – eine der Überlebenden, die im Film interviewt werden – auf dem Weg zur Pressekonferenz aufgehalten und zu einem kleinen Umweg gezwungen wurden. „Wir bestimmen, wer hier durch darf“, hatte sie ein Ordner im Interconti angeknurrt. „Dass so etwas heute noch möglich ist“, klagte die Dame unter Tränen. „Ich schäme mich!“ Man hätte glauben können, draußen hinge ein „Juden verboten“-Schild. Dabei hatte nur ein Fernsehsender eine Privatparty gegeben und einen Teil der Hotellobby für seine Gäste reserviert. Leider können Emotionen ziemlich dumm sein.

Anja Seeliger

„Die letzten Tage“ (The Last Days). Dokumentarfilm von James Moll, USA 1998, 90 Min.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen