: Tod des Schattenmannes
■ Dem Oldenburger Theater Wrede ist mit „Schattenriss“ eine einfühlsame Inszenierung zum Thema sexueller Missbrauch gelungen
Das Mädchen hat keinen Namen. Es schaut in den Spiegel, ertastet sein Selbst mit den Händen. Findet nichts. Außer seinen Schatten an der Wand. „Wenn du reden könntest ...“, und tatsächlich, da ist ein leises Plappern, ein Wispern, Atmen. Das Mädchen taucht in seinen Schatten, gleitet durch die Lamellenwand, macht sich unsichtbar.
Mit der Uraufführung von Lilly Axsters „Schattenriss“ wagt das Oldenburger Theater Winfried Wrede einen schwierigen Balanceakt, und – um es vorweg zu nehmen – besteht ihn überzeugend. Die Thematik des Stücks – sexuelle Gewalt an Kindern – in ihrer Komplexität, mit den Psychogrammen der beteiligten Personen auf die Bühne zu bringen, ohne platt psychologisierend zu werden, ohne aber auch nur in ein schwarzes Drama zu verfallen, und nochmal ohne den Ak-teuren die Würde zu nehmen, also dem Voyeurismus einen Spalt zu öffenen – das ist schon schwierig genug. Lilly Axsters Stück aber richtet sich zudem an Kinder ab zehn Jahren. Sie nicht zu schrecken, sondern zu ermutigen, ihre Gefühle wahrzunehmen, das gelingt in der Regie von Winfried Wrede nicht zuletzt dank der Illus-tration von Empfindungen und Beziehungen durch audiovisuelle Mittel. Bernhard Kösling lässt die Klappen seiner Klarinette sanft schnappen, das Blatt schwingt im tonlosen Luftstrom und auch heftig jammernde, schneidende und fiepende Töne verleihen dem Schweigen des verletzten Mädchens (Maike Schiller) Sprache.
Und sie bleibt nicht allein. Denn in der komplexen Komposition von Friedemann Schmidt-Mechau finden auch die Reaktionen im ZuschauerInnenraum ihren Platz. Eine Klanginstallation nimmt zeitweise Impulse auf und verwebt sie mit der Unsagbarkeit im Bühnenraum. Und da sind die Eltern des Mädchens, sympathische Menschen eigentlich. Doch auf zwei Bildschirmen erscheinen sie als verzogenes Schwarzweißbild, monstös, so, wie das Mädchen sie durch die ständige Zurichtung seiner Gefühle erleben mag.
Schon als Säugling muss er dies Gefummel der übermächtigen Fratzen mit den langen Nasen ertragen, ihr „heititei, das mag es gern“, „braves Kind“, später dann als väterliche „na, das ist schön, das ist unser Geheimnis“. Über kleine Funkkameras wird das Gesicht der Eltern direkt auf die Bildschirme übertragen. Dieses Verfahren von Jürgen Salzmann erlaubt eine Spaltung der Personen. Für die ZuschauerInnen nämlich bleiben Pablo Keller und Marga Koop in ihrer Normalität als Paar sichtbar, mit ihren eigenen Verstümmelungen. Er fühlt sich innerlich klein, aus Angst, als Mann nicht bestehen zu können. Sie ist gefangen in ihrer alimentierten Einsamkeit.
Gemeinsam inszenieren sie Happy Family zu swingender Fünfziger Jahre Musik, in Schürze, Krawatte und Rüschenkleid – angeheftete Rollenattribute aus Papier. In einem bonbonfarbenen Lichtregen werden rote Herzen fröhlich hin- und hergeschmissen. Illusion Familienglück, die für das Mädchen immer wieder bricht. Sie versucht Selbstverortungen in der Fantasie, hier findet sie Mut. Denn da begegnet sie den Schatten der Eltern, den Stimmen ihrer Sprachlosigkeit. Sie spielen ausgelassen miteinander, Männlichkeitsbilder werden persifliert. Im Duell mit Lucky Luke, der bekanntlich schneller zieht als sein Schatten, findet das Mädchen schließlich Satisfaktion. Es erschießt den Schatten seines Vaters und dreht dem verzerrten Videobild kurzerhand den Saft ab.
In dieser feinen Waage aus Verspieltheit, Ernst und Mitgefühl mit allen Handelnden ist mit „Schattenriss“ eine wirklich mutmachende Inszenierung gelungen, die auch Projekt ist. Denn eine psychologische Beratung steht bei jeder Aufführung diskret als Ansprechpartnerin für Betroffene zur Verfügung. Und mit einem Fachtag in der „Fabrik Rosenstraße“ will das Theater Winfried Wrede am kommenden Donnerstag in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen und Initiativen das Thema Machtmissbrauch an Kindern breit thematisieren. Hier also ist das Publikum – Kinder und Jugendliche – nicht nur das Objekt künstlerischer Begierde, sondern wird als Subjekt ernst genommen.
Marijke Gerwin
Weitere Aufführungen: Mittwoch, 8. März, 10 und 16 Uhr. „Schattenriss“ wird außerdem in den kommenden Tagen fast täglich zu verschiedenen Uhrzeiten gespielt. Infos über die Spielzeiten sowie über den Fachtag am Donnerstag erteilt das Theater unter 0441/850 98. Karten sind auch in der Fabrik Rosentraße unter 0441/957 20 22 bestellbar.
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