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Mürrisches Menschenpanorama

Der britische Fotograf Tom Wood dokumentiert seit 1978 das Leben in Liverpool. Trotz des urbanen Verfalls und der Armut spiegeln seine Aufnahmen die Zeitlosigkeit der Gesichter wider. Jetzt wird Woods Langzeitstudie „People“ in Ulm ausgestellt

von MARTIN PESCH

Ein Kind schaut neugierig, das andere traurig in die Kamera. Ihre Mutter sitzt verdrossen neben ihnen. Dahinter im Bus sind zwei ältere Damen ins Gespräch vertieft. Über allem liegt ein Schleier aus Spiegelungen und Lichtreflexen. Tom Wood, der diese Aufnahme 1989 gemacht hat, saß, so scheint es, in einem Bus, der kurz neben dem hielt, in dem diese fünf Menschen so dicht beieinander saßen. Zwei Fensterscheiben und ein Streifen Straßenluft trennen den Fotografen von seinem Motiv. Er nennt es: „Stanley Road, Bootle“.

Bootle ist ein Stadtteil von Liverpool, wo Wood, der 1951 geboren wurde, seit 1978 wohnt. Seitdem benutzt er den Bus, um sich in der Stadt zu bewegen, und irgendwann fing er an, auf diesen Fahrten zu fotografieren. Daraus ist die umfangreiche Werkgruppe „All areas off peak“ entstanden, von der nun einige Ausschnitte im Ulmer Kunstverein zu sehen sind.

Dort, im Schatten des welthöchsten Kirchturms und inmitten einer putzigen Altstadt, wirken Woods Fotografien einer heruntergekommenen urbanen Umgebung recht seltsam. Aber schon bald merkt man, dass es Wood nicht um die Dokumentation des Verfalls der ehemals blühenden Hafenstadt am Mersey geht. Je länger man auf Woods Fotografien schaut, desto präsenter werden die darauf abgebildeten Menschen. Ob sich eine Traube von ihnen an der Bustür drängelt, ob eine junge Frau an einer Haltestelle im städtischen Niemandsland steht – viel zu dünn bekleidet für den offensichtlich schneidenden Wind – oder ob eine ältere Dame einsam in einer der hinteren Sitzreihen des Busses sitzt, besinnlich wie in einer Kirchenbank – in jedem Fall scheinen sich alle von ihnen zu behaupten gegenüber dem Zustand des urban decay, der um sie herum herrscht.

So summieren sich die einzelnen, von Wood beiläufig eingesammelten Augenblicke alltäglicher Situationen zu einem Panorama der Menschlichkeit. Das rückt seine Arbeit durchaus in die Tradition älterer Menschen-Fotografen wie August Sander und Henri Cartier-Bresson. Ganz nah ist er auch an den Arbeiten der New Yorker Fotografin Helen Lewitt, die erst im Zuge der letzten documenta eine angemessene Beachtung gefunden hat.

Diese Tradition wird insbesondere an seiner Werkreihe „People“ deutlich, der die zweite Hälfte der Ulmer Ausstellung und ein im Kölner Wienand Verlag erschienener Fotoband gewidmet sind. An dieser Werkgruppe – der Titel benennt das eigentliche Thema Woods – arbeitet er schon fast dreißig Jahre, seit er 1972 einen Fotoapparat in die Hände bekommen hat. Auffallend ist, dass die Zeitspanne zwischen den Schwarzweißaufnahmen aus den 70ern und den Farbfotos aus den frühen 90ern kaum auffällt. So tritt auch hier jene Konstante in den Vordergrund, die sich in den Gesichtern der Menschen zeigt. Anhand von Woods Fotos kann man keine Studien der wechselnden Moden und Stile betreiben. Die beiden Männer, die auf einer Bank sitzen und mürrisch gucken, die Ellenbogen auf die Knie gestützt – von Wood in leichter Obersicht, also anscheinend im Vorbeigehen 1983 aufgenommen –, könnten heute noch immer dort sitzen. 1973 fotografierte Wood zwei junge Frauen, die mit Strohhalmen aus Limoflaschen trinken. Auch sie sind jeder Zeit enthoben. Es mögen heute dort zwei andere stehen, Wood würde sie genauso sehen, und vom Hinweis auf die Herrentoilette, der über ihren Köpfen zu sehen ist, fehlen mit Sicherheit noch immer die ersten beiden Buchstaben.

Tom Wood: „People“, bis 2. 4., Kunstverein Ulm

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