: Uferloser Twist
Chauvinistische Fürsorge: Wie der Ullstein Verlag 1956 mit einemFotoband „die weibliche Spielart des Berlinertums“ in Szene setzte
von ULRICH PELTZER
Eine Schlagzeile der B.Z. aus dem Jahr 1956: „Wer wurde Miss Germany? Natürlich . . . MISS BERLIN!“ – unverwechselbar ist diese Mischung aus Provinzialität und Größenwahn, die bis heute exemplarisch fürs Gemüt der meisten hier Alteingesessenen wie ihrer Presse geblieben ist. Zu sehen ist das B.Z.-Titelblatt in einem schmalen, vor fast 40 Jahren im Ullstein Verlag herausgegebenen Band mit kommentierten Fotos, die, wie der schlichte Titel es sagt, „Berlinerinnen“ zeigen. Zum Beispiel eine Marina Orschel, die als eben gewählte „Schönheitskönigin“, als „Grazie des Laufstegs“ das Zentralorgan derartiger und verwandter Triumphe lächelnd in den Händen hält.
„Buch der Gesichter“ lautet der Untertitel des Ganzen, abgebildet sind neben unbekannten, in der Regel jungen Frauen solche, die damals einige Prominenz besaßen; bis in die Gegenwart hinein noch geläufig die Namen Knef, Froboess oder Wigman.
Von ein paar Momentaufnahmen (Party, Sechstagerennen) abgesehen handelt es sich um Inszenierungen, und man kann nicht anders, als sich des Vokabulars der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre zu bedienen, um die Posen, Gesten und Blicke der Modelle zu beschreiben: versonnen, keck, frivol, übermütig, als Zuschreibungen, die der Text in seiner paternalistischen Diktion als „weibliche Spielart des Berlinertums“ ausführt. Fräuleinwunder ist so ein Wort, das nicht nur aus derselben Epoche stammt, sondern in seiner verkleinernd-herabsetzenden Form auch bezeichnet, was unter Emanzipation überhaupt zu verstehen wäre.
Wie man sich an Standfotos aus alten Wochenschauen erinnert fühlt, durchzieht die Sprache des Buches ein Ton, hinter dessen verschwiemelter Harmlosigkeit sich aggressive Momente kaum verbergen, etwa wenn biederen Turnerinnen die Aussage der Jugendsenatorin gegenübergestellt wird, man müsse für die „reizüberschwemmte“ Jugend genug Jugendheime bauen, da das wertvoller sei, „als später Geld für Gefängnisse auszugeben“.
Es ist eine Welt in Schwarzweiß, die tradierte Rollenmodelle beschwört in einem Augenblick, in dem sie sich langsam aufzulösen beginnen, und kein Zufall, dass die Schwabinger Krawalle, aus mehr oder weniger nichtigem Anlass entstandene nächtliche Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei, die ersten in der Geschichte der Bundesrepublik, sich zeitlich parallel ereigneten; ahnungsvoll faselt der Textautor, ein gewisser Felix Henseleit, zu einem Bild tanzender Paare von „Temperamentswogen“, die „beim Twist über die Ufer zu treten drohten“.
„Der Jugend die Hand reichen“ heißt eines der kurzen Kapitel, und diese Überschrift markiert eigentlich genau schon den Abstand, der wenige Jahre später unüberbrückbar geworden zu sein schien – weniger politisch als auf einer Ebene der Körper, die sich nun einem Arrangement verweigerten, wie es Bild für Bild in diesem Büchlein exekutiert wird.
Der Twist wurde durch die so genannte Beatmusik abgelöst, die ganz andere Energien freisetzte, wenngleich auch junge weiße Männer – und eben nicht Frauen – ihre maßgeblichen Protagonisten waren. Gut vorstellbar, dass einige der Abgebildeten zu den Besuchern jenes Konzerts der Rollings Stones 1965 in der Waldbühne gehörten, die das Mobiliar des ehemaligen Nazi-Thingplatzes in Kleinholz verwandelten.
Dass die Jugend, die als soziale Kategorie erst in den Fünfzigerjahren auftauchte und rasch zum Objekt staatlicher Überwachung und Eingriffe wurde, undiszipliniert sei und dem Alter den Respekt verweigere, war eine gängige Klage der Zeit, und nach Betrachten der Fotos lässt sich retrospektiv nur sagen: Richtig so! Die Frage, ob es einen entsprechenden Band mit Aufnahmen junger männlicher Berliner hätte geben können, beantwortet sich von allein, insbesondere aber in einer Form ikonografisch-sprachlicher Zurichtung, der es gelingt, selbst einer Grafikprofessorin wie Eva Schwimmer ein Eigenleben zu beschneiden und ihre Arbeit zum Ziel schleimig-chauvinistischer Fürsorge zu machen: „Wenn sie den Griffel einmal weglegt und die Feder ansetzt zu irgendeiner Kurzgeschichte oder einer Schilderung, so gedeiht unter ihren Händen immer eine hübsche, wohlgestaltete Miniatur, die man sehr behutsam genießen muss.“
Als jemand, der seine Kindheit unter Patronat dieser Atmosphäre verbracht hat, gruselt es mich beim Herumblättern, und mir wird noch einmal klar, wie notwendig und berechtigt jede Auflehnung dagegen gewesen ist, und sei es bloß der tägliche (männliche) Kampf um Haarlänge und Hemdfarbe, veranstaltet zwischen 1970 und 1975 im Halbdunkel Westdeutschlands – man hat wirklich keine Lust mehr, sich daran zu erinnern.
So what? Alles vorbei, alles Retro? Liest man die neckischen, von einer Frau verfassten Legenden unter den Fotos weitgehend entblößter Modelle auf Seite 1 der Bild-Zeitung, scheint nicht nur der Geist der Fünfziger lebendig wie eh und je, auch die Klientel, die seiner zur täglichen Tröstung bedarf, zählt offenkundig nach Millionen. Als ob unter der Oberfläche deregulierter Verkehrsformen derselbe alte Muff noch immer stinken würde. Was sich dann geändert hat? Oder sind etwa gesellschaftliche Fortschritte lediglich warenästhetische Manöver? Dass die Bilder heute fast ausnahmslos farbig sind, liegt wohl daran, dass die chemische Industrie die Produktion von Schwarzweißfilmen irgendwann eingestellt hat, von einzelnen Restbeständen abgesehen.
Ulrich Peltzer ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Sein letzter Roman, „Alle oder keiner“, ist im Ammann Verlag erschienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen