: Strandgut der Erinnerung
The Long Way Home erzählt ein vergessenes Kapitel des Holocaust: das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge ■ Von Ariane Heimbach
Sie hatten überlebt, und nun saßen sie wieder hinter Stacheldraht, teilweise in ehemaligen Konzentrationslagern, mitunter zusammenpfercht mit einstigen Nazi-Sympathisanten: Zehntausende von besitz- und heimatlosen Juden. Amerikaner und Briten wussten sich nach Kriegsende angesichts der riesigen Flüchtlingsströme nicht anders zu helfen, als in ihren Besatzungszonen riesige „Displaced Persons Camps“ zu errichten.
„Es sieht so aus, als behandelten wir die Juden nicht anders als es die Nazis taten, nur dass wir sie nicht ausrotten“, schrieb ein amerikanischer Berichterstatter an den US-Präsidenten Truman, nachdem er 30 Lager besucht hatte. Da waren schon Monate vergangen, in denen die Internierten unter katastrophalen Bedingungen lebten.
The Long Way Home von Mark Jonathan Harris beleuchtet ein weithin vergessenes Kapitel der Folgen des Holocausts. Und allein dafür ist der 1998 mit dem Oscar prämierte Dokumentarfilm sehenswert. Dafür, dass dieses Zwei-Stunden-Epos mit akribischem Eifer die Erfahrungen der rund 300.000 jüdischen Überlebenden in den Jahren 1945 bis 1948 bis zur Gründung des Staates Israel rekonstruiert. Anhand von Foto- und Filmmaterial aus Archiven, Zeitzeugeninterviews und Ausschnitten aus Tagebüchern und Briefen montiert Harris ein Erinnerungsbild, aus dem wahrscheinlich jeder etwas lernen kann.
Auch wenn die Fakten längst in Büchern stehen, Harris betreibt mit allen Mitteln des Erzählkinos Geschichtsunterricht für ein Massenpublikum: Bekannte US-Schauspieler wie Morgan Freeman oder Martin Landau erzählen mit sonoren Stimmen aus dem Off, der Soundtrack sorgt für dramaturgische Effekte, mal beschleunigt Harris die Schnitte, mal hält er ein Bild sekundenlang fest. So gerät die Lektion äußerst spannend: Während die jüdischen Flüchtlinge in den Lagern ausharrten, lernen wir, hatten die Siegermächte ganz andere Sorgen. Die Briten zum Beispiel, seit dem Ersten Weltkrieg Mandatsträger von Palästina, wollten sich ihr Öl-Geschäft mit den Arabern nicht verderben lassen und schränkten die Einreise der europäischen Juden rigoros ein.
Harris Film bietet aufschlussreiche Einblicke hinter die Kulissen der Weltpolitik, etwa wenn er zeigt, dass der damalige britische Außenminister Bevin mit unverhohlenem Antisemitsimus auf das Beharren Trumans reagierte, doch 100.000 Immigranten nach Palästina zu lassen. Daneben erzählt The Long Way Home von der Gründung der jüdischen Untergrundarmee Haganah, die illegale Zuwanderungen nach Palästina organisierte, von der Odyssee des Flüchtlingsschiffes „Exodus“ und immer wieder vom ungebrochenen Überlebenswillen der Lagerinsassen. Harris Chronik endet mit dem Beschluss der UNO am 29. November 1947, Palästina zu teilen und einen Staat Israel zu gründen.
Die Staatsgründung erscheint damit als direktes Produkt des Holocausts – eine Interpretation, die im heutigen Israel nicht alle teilen, was der Film jedoch nicht reflektiert. Aber solche Auslassungen sind verzeihlich. Jeder Erinnerung folgt schließlich das Vergessen auf Schritt und Tritt, und Historiker würden wohl so manche Gedächtnislücke bei Harris aufzeigen können. Doch etwas ganz anderes hinterlässt bei dieser geradlinig auf einen Punkt zusteuernden Saga ein mulmiges Gefühl.
Es ist der scheinbar unangestrengte Gestus des Erzählens, die Art und Weise, wie dem Vergessen entrissene Bruchstücke hier in einen Fluss der Bilder und der Musik gebracht werden, als könne man in die Geschichte eintauchen, ohne sich jemals am Strandgut der Erinnerung zu stoßen. Die Kamera, ein anonymer Beobachter, zaudert nie – es wäre ja ihr Versagen. Im Dienste der Errettung der Wirklichkeit in all ihrer Grausamkeit sieht sie immer wieder hin. Sie fährt über Leichenberge, die ausgemergelten Leiber von KZ-Überlebenden, starrt in ihre erst fassungslosen später hoffnungsvollen Gesichter. The Long Way Home reisst damit noch einmal die ganze Problematik der Kinematographie des Holocausts an: die Ambivalenz der Bilder von namenlosen Massen, in denen die Individuen untergehen. Beschämend und doch erleichternd ist da die Aufnahme eines Menschen, der den Befreiern und ihrer Kamera seinen mageren Rücken zukehrt und einfach geht.
Fr, 31. 3. – Mi, 5. 4., 17.30 Uhr + So, 2.4., 11 Uhr, Zeise-Kino
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