: Von Misshandlung wird geschwiegen
Eine bundesweit einzigartige Studie zeigt: Mediziner erkennen häufig Symptome häuslicher Gewalt nicht
90 Prozent der Frauen, die ihren Arzt mit Verletzungen oder Erkrankungen aufsuchen, die durch Misshandlungen verursacht wurden, werden von den MedizinerInnen nicht als Opfer von Gewalt erkannt. Ein Drittel der ÄrztInnen glaubt sogar, noch nie eine misshandelte Frau versorgt zu haben. Das ist das erschreckende Ergebniss einer Untersuchung, die gestern in Berlin vorgestellt wurde.
Die Befragung bezieht sich auf niedergelassene ÄrztInnen der Fachgebiete Allgemeinmedizin, Gynäkologie und Innere Medizin in zwei Berliner Bezirken, doch die Autorin der Studie geht davon aus, dass das Resultat auf das Bundesgebiet insgesamt übertragbar ist. Denn Studien in anderen Staaten, wie in den USA etwa, hätten ähnliche Ergebnisse erbracht.
Die Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin Heike Mark hat im Auftrag der beiden Bezirksämter Berlin-Hohenschönhausen und Berlin-Lichtenberg die Angaben von 65 ÄrztInnen mit Untersuchungen zum Thema Gewalt gegen Frauen verglichen. Jene kommen zu dem Ergebnis, dass ein Viertel aller Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer von häuslicher Gewalt wird.
Die Auswirkungen von Gewalt sind ein zentrales gesundheitliches Problem von Frauen. Die Folgen reichen von blauen Flecken und Knochenbrüchen über chronische Unterleibschmerzen bis zu psychischen Problemen wie Panikattacken, Schlaf- und Essstörungen. Auch Selbstmordversuche und Abhängigkeit von Tabletten und Alkohol kommen bei misshandelten Frauen viel häufiger vor. „Die meisten betroffenen Frauen suchen irgendwann einen Arzt oder eine Ärztin auf, für viele von ihnen sind sie sogar die einzige Kontaktperson außerhalb der Familie“, so Mark. MedizinerInnen könnten also eine Schlüsselrolle bei häuslicher Gewalt einnehmen.“ Doch davon sind die ÄrztInnen weit entfernt. Zwei Drittel der befragten MedizinerInnen fühlen sich nicht ausreichend über das Thema Gewalt gegen Frauen informiert.
Um das zu verbessern, hat die Gesundheitswissenschaftlerin Mark Leitlinien zum Umgang mit häuslicher Gewalt erarbeitet. Danach soll bei allen ärztlichen Untersuchung routinemäßig nach Misshandlungen gefragt werden. Die Berliner Ärztekammer, die für Fort- und Weiterbildung der MedizinerInnen zuständig ist, habe bereits Interesse signalisiert. Nun will Mark ihre Vorschläge in den ärztlichen Fachorganisationen debattieren.
Das Berliner Universitätsklinikum Benjamin Franklin ist da schon weiter. Hier läuft seit einem guten halben Jahr ein bundesweit einzigartiges Modellprojekt, bei dem ÄrztInnen und Pflegekräfte der Notaufnahme und der Ersten Hilfe im Umgang mit Gewalt gegen Frauen geschult werden. Mit Hilfe von Leitlinien lernen sie, mit dem Verdacht auf Misshandlungen offensiv umzugehen. SABINE AM ORDE
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen