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Der Zwang zur Toleranz

Erstmals seit dem Holocaust gibt es an der Jüdischen Oberschule in Berlin-Mitte wieder eine Abiturklasse. Nur 60 Prozent der Schüler sind Juden. Ein Drittel stammt aus den GUS-Staaten

von PHILIPP GESSLER

Konstantin hält es nicht mehr aus. Zwar ist es noch lange nicht so weit, doch der blonde bullige Schüler hat sich schon etwas Matze genommen, hält sie, vielsagende Blicke mit seinen Mitschülern wechselnd, unter dem Tisch versteckt und knabbert verstohlen an dem ungesäuerten Fladenbrot. Allerdings nur, wenn Rabbi Ehrenberg bestimmt nicht guckt. Der findet es „scheen, wie das alles vorbereitet ist“, spricht von den biblischen Plagen, die über die Ägypter kamen, und weist die jungen Leute an den Tischreihen an, für jede dieser Strafen Gottes, deren Name sie in Hebräisch sagen, einmal einen Finger in den Traubensaft zu tauchen und einen Tropfen auf ihren Teller zu geben: als Mahnung, dass das Volk Abrahams bei aller Freude nie das Leid der Welt vergesse.

In der Jüdischen Oberschule in Berlin-Mitte wird Seder gefeiert, ein rituelles und langwieriges Festmahl zu Beginn des Pessach-Festes. Konstantin und seine Mitschüler kennen den Ablauf schon gut von den Vorjahren, in denen sie diesen höchsten jüdischen Feiertag begangen haben. Doch dieses Mal ist es etwas Besonderes. Es wird das letzte Mal hier in der Aula sein. Ende Juni machen 19 Schülerinnen und Schüler an der einzigen jüdischen Oberschule Deutschlands Abitur. Erstmals seit dem Holocaust erhalten jüdische Gymnasiasten in ihrer Schule die Hochschulreife.

Jüdischer Alltag lebt wieder auf im Land der Richter und Henker. Aber normal ist das alles noch lange nicht. Vor der Schulpforte stehen Polizisten und kontrollieren jeden Besucher. Um den Jahrhundertwendebau wurden mächtige Schutzzäune errichtet, wie sie selbst vor dem Bundeskanzleramt nicht zu sehen sind. Auf einem Schwarzen Brett hängt ein Zettel, der graphisch darstellt, was ein „Terroralarm“ ist.

Warum nehmen junge Leute diese Unannehmlichkeiten auf sich? Warum wollen sie gerade auf diese Lehranstalt? Den meisten, sagen die Abiturienten Eduard, Philipp und Leonid, die die Seder-Zeremonie mit vorbereitet haben, sei es einfach wichtig, hier zu sein. Das Judentum bedeute ihnen viel, auch wenn sie nicht sehr religiös sind. Leonid hat Religion abgewählt. Ebenso Philipp. Und doch sagt der: Er habe sich diese Schule ausgesucht, da er sich an anderen „nicht jüdisch gefühlt“ habe. Konstantin wirft ein, er habe mit arabischen Schülern auf einer staatlichen Schule ab und zu Probleme gehabt. Hier herrsche ein gutes Gemeinschaftsgefühl, sagen alle.

Das ist nicht verwunderlich. Die Privatschule ist klein: Nur rund 250 junge Menschen drücken hier die Schulbank. Es gibt eine Ganztagsbetreuung und Mittagessen. Hebräisch, Religion und Morgengebete sind bis zur Oberstufe für alle Schüler Pflicht.

Dennoch scheinen viele Gebete auf der Seder-Feier den meisten Schülern eher wie böhmische Dörfer. Doch der fesche Religionslehrer Daniel Alter sieht das gelassen: „Hatten Sie Lust auf alles in der Schule?“, fragt der 41-Jährige. Zudem sei für viele die Schule der erste Kontakt zum Judentum oder zu jüdischen Riten. Zu ihnen gehörten die Schüler, die aus der ehemaligen UdSSR kommen und nie die Möglichkeit hatten, ihr Judentum zu leben. Viele von ihnen lehren heute die eigenen Eltern ihre Religion. Dazu gehören aber auch viele Schüler, die keine Juden sind. Das sind etwa 40 Prozent der Schülerschaft. Als Juden gelten die Schüler, die mindestens eine Mutter oder einen Vater jüdischen Glaubens haben.

Der Abiturient Georg gehört zu den Nichtjuden, er ist konfessionlos. Der 19-Jährige kam vor sieben Jahren in diese Schule, da seiner Familie und ihm die anderen in der Gegend nicht zusagten: Noch zuviel Ost-Mief, schlechte Ausstattung, „Stasi-Lehrer“, meint Georg. Ausserdem seien ein paar Freunde von ihm auch hierhin gewechselt. Hebräisch habe ihn gereizt. Auf die Idee zum Judentum zu konvertieren, sei er aber nie gekommen, erklärt der junge Mann aus dem Ost-Bezirk Prenzlauer Berg: Er glaube an keinen Gott. Dennoch achtet er das Judentum, findet es „spannend“. Die Gebete könne er mittlerweile natürlich, und es mache ihm auch nichts aus, wenn, wie jetzt auf der Seder-Feier, vom „auserwählten Volk“ die Rede ist: „Dann gehöre ich halt nicht zum auserwählten Volk“, meint er lässig, „ist mir auch egal.“ Wacker singt er beim Seder die jüdischen Lieder mit.

Ein Glücksfall? Der Kontakt zwischen Nichtjuden und Juden ist völlig unproblematisch, betonen die Abiturienten. Der Umgang untereinander sei „Alltag“, sagt Georg, „das ist halt ’ne Schule“. Auch Leonid, ein jüdischer Schüler, geboren in der Ukraine, sieht da keine Probleme: Durch seine nichtjüdischen Mitschüler – sie machen in der Oberstufe sogar die Hälfte aller Schulkameraden aus – lerne man doch etwas über andere Religionen. Zudem werde hier vom Judentum nur „das Minimum“ gelehrt – und das vorsichtig, nicht missionarisch.

Jonathan scheint das nicht gereicht zu haben, er will nach dem Abi ein Jahr auf eine Bet Midrasch, ein Lehrhaus, das vergangenes Jahr in Berlin eröffnet wurde. Aufgewachsen in einer religiösen Familie, war er seit dem Kindergarten nur auf jüdischen Schulen. Auf der Seder-Feier weiß er am Tisch am besten über die Riten bescheid. „Man kann immer mehr lernen“, sagt Jonathan. Doch diese Anhänglichkeit zur Religion ist an der Schule offenbar eher nicht die Regel. Religionslehrer Alter betont, er wisse bei den Schülern gar nicht genau, wer nun eigentlich jüdisch sei oder nicht. Auch die Leistungen der Schüler seien in seinem Fach unabhängig von dieser Frage. „Ab jetzt sprechen wir nach dem Essen wieder das Tischgebet (Birkat Hamason)!“, heißt es auf einem Aushang neben der Tür zur Aula. Selbst der Schulleiter Uwe Mull ist kein Jude.

Dies ist eine Schule für Fremde. Ein Drittel der Schüler ist in den Staaten der GUS aufgewachsen. Ihre Heimatsprache ist Russisch – und „viele sind mit dem Herzen noch Russen“, sagt Mull. In der 7. und 8. Klasse, erzählen die Abiturienten, habe es bei ihnen noch zwei Gruppen – hier „die Russen“, da die anderen – gegeben. Aber spätestens mit der Oberstufe und dem Kurssystem habe man das überwunden. Zusätzliche Deutschkurse werden für die „Russen“ angeboten. Und doch hört man auf der Seder-Feier selbst bei Oberstuflern, die Gebete vorlesen, einen russischen Akzent heraus.

Leonid findet dieses Multikulturelle in seiner Schule toll. Das zwinge zu Toleranz. Es sei ja auch kein Zufall, dass die USA, in der so viele Kulturen miteinander lebten, derzeit so blühten. „Dieser Mix macht es!“ Seine Kinder würde er auch deshalb jederzeit auf diese Schule schicken, betont er. Und wegen der guten Lernbedingungen. Manche Leistungskurse hätten nur sechs Schüler.

Dennoch hat die Oberschule bei vielen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde keinen besonders guten Ruf. Alle in der Schule haben dies schon gehört. Georg erzählt, ab und zu müsse man in unteren Klassen beim Deutschunterricht Rücksicht nehmen auf die „Russen“ – aber das sei in Kreuzberger Schulen mit hohem Ausländeranteil ja auch nicht anders. Etwa 90 Prozent der Realschüler, so Schulleiter Mull, seien russischsprachiger Herkunft. Insgesamt habe man das Niveau anderer Schulen der Hauptstadt. Reli-Lehrer Alter verweist darauf, dass er Kurse habe, die Judaistik-proseminaren glichen. Die Hebräischlehrerin Rina Otterbach verkündet stolz, sie habe bereits Artikel aus Ha`aretz, der FAZ Israels, lesen lassen.

Dennoch würdigten viele Gemeindemitglieder die Arbeit der Schule nicht genug und schickten ihre Kinder nicht auf diese Schule, bemängelt die gebürtige Israelin. Sie hat dafür mehrere Erklärungen: Zum einen sei die Schule vielen jüdischen Eltern in der riesigen Metropole einfach zu weit entfernt. Zum anderen befürchteten viele, ihre Kinder würden in einer „verkehrten Welt“ aufwachsen, wenn sie in ihrem Schulumfeld nur von Juden umgeben seien: Nach der Grundschule schickten sie ihre Kinder lieber auf staatliche Schulen. Schließlich erscheine manchen die Mehrbelastung ihrer Kinder durch den Hebräischunterricht zu hoch.

Das angeblich schlechte Niveau der Oberschule sei nur „ein Ruf oder Rufmord“, sagt Jael Botsch-Fitterling, Vorsitzende des Schulausschusses der Gemeinde. Probleme schaukelten sich eben leichter hoch, da die Kontakte zur Gemeinde so eng seien: Da werde leicht „aus einer Mücke ein Elefant gemacht“: „Hier kochen eben zu viele Köche.“ Das Niveau gleiche dem von Gesamtschulen der Hauptstadt.

Seit 1788 gibt es ein jüdisches Schulleben in Berlin – schon damals wurden in den jüdischen Schulen Juden und Nichtjuden unterrichtet, von Lehrern mosaischen und christlichen Glaubens übrigens.

Im heutigen Schulgebäude war während der Nazizeit zeitweise ein Sammellager für Transporte in die Vernichtungslager. Man mache hier keine „Show“, sondern „Pionierarbeit“, sagt die Hebräischlehrerin Otterbach: Die Schule schaffe die Grundlage für eine neue jüdische Zukunft in Deutschland.

Leonid will nach dem Abi mit Freunden durch Europa reisen und auch mal nach Israel, um sein Hebräisch zu trainieren. Wie alle Juden, die Verwandte im Holocaust verloren haben, wird er nicht zum Militär eingezogen. Als es auf der Seder-Feier mal wieder allzu turbulent wird, mahnt er: „Diese Regeln sind tausende Jahre alt – heute brechen wir sie nicht.“ Da wird es tatsächlich fast still.

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