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Die Stunde der Tschetscheninnen

Russen fürchten sie als Scharfschützen, Einheimische schätzen sie als Heldinnen des Wiederaufbaus: In den Trümmern sind jetzt die Frauen gefragt

aus Grosny KLAUS-HELGE DONATH

Emsig geht es zu vor dem Bahnhof in Grosny. Fröhliche Trümmerfrauen verwandeln hämmernd und klopfend Ziegelschutt in neues Baumaterial. Hoch oben auf dem Gerüst schwingen Frauen energisch die Putzkelle, als würden sie ein Orchester dirigieren. Musik liegt in der Luft. „Ich will nur ein Leben in Glück und Frieden“, frohlockt Ljubow Abdullajewa. „Dafür arbeite ich sogar umsonst“, meint die Schaffnerin, während sie die letzten Mörtelreste mit einem Spachtel beseitigt. „Unserer Bahnhofsvorsteherin sei Dank, dass wir hier arbeiten dürfen“. Einige Arbeiterinnen bauen den Bahnhof nun schon zum dritten Mal in wenigen Jahren wieder mit auf.

Kein Film und keine Propaganda. Vielmehr eine bittere Lektion: über Ausbeutung, Gewalt und übermenschliche Ausdauer. Was der russische Soldat in Asche legt, richtet die Tschetschenin unermüdlich wieder auf.

Noch ist der Bahnhof das einzige Gebäude in der Hauptstadt, das von Grund auf renoviert wird. Wäre es nicht wichtiger, Wohnhäuser wieder herzurichten? Stationschefin Leila Chamidowaja sieht das anders: „Der Bahnhof ist das Herz der Stadt, ohne ihn gibt es kein Leben.“ Die 50-Jährige humpelt, ihr rechtes Bein steckt in einem Gipsverband. „Eiserne Lady“ wird sie von ihren Arbeitsbienen genannt, die, wenn sie könnten, Salambek Chadschijew zum politischen Oberhaupt küren würden. Chadschijew diente schon im ersten Tschetschenienkrieg den Russen als Marionettenpremier. Sein Clan im nördlichen Terek-Gebiet zählt zur tschetschenischen Minderheit, die Moskau die Treue hält. „Hauptsache, eine starke Hand regiert“, meinen alle einhellig. Insgeheim hoffen die Eisenbahnerinnen, der zurückgekehrte Kolonialherr werde ihren Enthusiasmus eines Tages mit einem regelmäßigen Salär belohnen. Bisher ist in Grosny allerdings noch kein einziger Rubel Unterstützung eingetroffen.

Tastend schiebt sich ein Güterzug auf Jungfernfahrt über Gleis 1, auf der Lokomotive flattert Russlands Trikolore. Auf einem Abstellgleis einige hundert Meter weiter stehen ausrangierte Kühlwaggons, in denen vergessene Soldatenkadaver seit fünf Jahren auf ihre posthume Anerkennung warten: Fürs Vaterland heldenhaft gefallen. Der Verwesungsgeruch in der sengenden Frühlingssonne hält die Erinnerung wach.

Grosny ist nur noch eine Koordinate

Die Stadt Grosny gibt es genau genommen nicht mehr. Ihr Panorama war schon nach dem ersten Krieg von Ödflächen zersetzt. Einst die Perle unter den Städten des Kaukasus, weckte sie Assoziationen an eine schreckliche Hautkrankheit. Heute ist Grosny nur noch eine Koordinate. Rund um den Minutkaplatz steht kein Stein mehr auf dem anderen. Der hohle Schacht eines ausgebombten Wohnturmes ist die einzige Vertikale. Aus der Kraterlandschaft ragen von Hitze und Druck verformte Metallteile. Auf einem steilen Dachfirst hält sich mühsam die Aufschrift: „Bei Feuer – 01“. Kontrollposten der Armee sind die einzigen Orientierungspunkte in der Trümmerlandschaft. Vor den Verschlägen der Wachposten hängen rote Banner der Sowjetunion. Die Botschaft ist eindeutig: Nicht die russische, die siegreiche Rote Armee ist zurückgekehrt. Mythen gedeihen in der Bruchlandschaft.

Trotz allem entsteht gerade in der Umgebung der Kontrollpunkte neues Leben. Wer in einen anderen Stadtteil will, der kommt an den Passierscheinstellen nicht vorbei. Es sind meist Händlerinnen, die hier bescheidene Habseligkeiten feilbieten, Zigaretten, Limonade und Schokoriegel. Männer unter 60 Jahren meiden die Stadt, solange Gefahr droht, unter Terrorismusverdacht festgenommen und in ein „Filtrationslager“ gesteckt zu werden. Die wächsernen Gestalten, die den Katakomben entsteigen, sind Frauen, ältere Männer und Kinder. Vor den fratzenartigen Fassaden der ehemaligen Prachtstraße, dem Freiheitsboulevard, kehren Freiwillige die Straße. Eine ewige Staubglocke hängt über der Stadtwüste. Vorsichtig hantiert eine große Hagere in schwarzem Festkleid mit tiefem Schlitz auf hohen Absätzen mit einem Reisigbündel. Alles andere ließ sie im Bombenhagel zurück, für den Neubeginn wollte sie angemessen gekleidet sein. Ihr Lohn – das Abfallholz der geborstenen Bäume. Es ist Gold wert, wo weder Strom- noch Gasversorgung funktionieren.

Nach dem ersten Krieg legten die Einwohner eine sagenhafte Betriebsamkeit an den Tag. Auch damals waren es die Tschetscheninnen, die der Normalität aufhalfen. Sie stöckelten über Schutthalden, als hätten sie vorher nie etwas anderes getan. Heute scheinen alle Bemühungen vergeblich. Rouge und Make-up reichen nicht mehr, um dem allgegenwärtigen Leid die Stirn zu bieten. Dieser Krieg hat mehr vernichtet. Auch damals glaubte man, die Zerstörung ließe sich nicht mehr steigern – ein Irrtum.

Zweihundert Gramm Brot für jeden

Vor der Suppenküche des russischen Notstandsministeriums (MTschS) drängeln sich einige hundert Menschen. Einmal täglich füttert man sie mit einem Napf Brei. Außerdem stehen jedem zweihundert Gramm Brot zu. Manch einer unternimmt einen Tagesmarsch, um sich wenigstens diese klägliche Ration abzuholen. Hussein Achmadow hält den winzigen Kanten am ausgestreckten Arm. Der 72-Jährige verkörpert eine Furchtlosigkeit und Würde, wie sie nur die Alten und Greise im Kaukasus ausstrahlen: „Zweihundert Gramm Brot hat man für uns übrig, im Weltkrieg gab es fünfhundert“, meint er bitter. „ So einen Krieg, so eine Barbarei habe ich noch nicht erlebt.“ Achmadow war gerade 16 Jahre alt, als Stalin die Tschetschenen 1944 in Viehwaggons nach Kasachstan deportieren ließ.

Hinter sieben vegetarischen „Gulaschkanonen“ hat das Notstandsministerium einen Kiosk eingerichtet und die Initialen „M“ „Tsch“ „S“ mit erhabenen Inhalten versehen: Sie stehen nun für „Mut, Ehre und Kraft“. Ein makabrer Witz. Der Ort der Massenspeisung dient den meisten überdies als Treff- und Fluchtpunkt letzter Hoffnungen. Vielleicht lässt sich etwas in Erfahrung bringen oder eines Tages taucht doch noch ein vermisster Angehöriger auf.

In dem Gebäude schräg gegenüber haben sich die Russen einquartiert. Häuser, die den Feuersturm zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung überstanden haben, nahmen die Russen in Beschlag. Hier zog eine Verwaltungsstelle ein, die Anträge auf soziale Unterstützung entgegennimmt. Rosa, eine Mutter von sechs Kindern, hegt indes wenig Hoffnungen, die fünfzig Rubel (3,50 Mark) pro Kind jemals zu bekommen. Die älteren Söhne hat sie aus Furcht, sie könnten verhaftet werden, bei Verwandten im Dorf zurückgelassen.

Es sind sich alle einig, dass der Krieg noch lange nicht vorbei ist. Maurer Uwais Chunaschew hat seine Familie nicht verloren, wohl aber den Glauben an den Frieden: „Kein Wachhabit und sogenannter Terrorist ist getötet worden“, meint der 50-Jährige, der sich nach den ruhigen kommunistischen Zeiten sehnt, „die Wachhabiten werden keine Ruhe geben“. Einem Partisanenkrieg seien die Russen nicht gewachsen. Ein unabhängiges Tschetschenien? Vergessen hat er den Traum nicht. Inzwischen zählt indes nur noch das nackte Überleben. Auch eine tschetschenische Regierung von Moskaus Gnaden werde ihr Volk nicht vor dem Terror bewahren. Chunaschew weiß das aus eigener Anschauung. In Atschkoi Martan lud der russotschetschenische Premier Koschman die Bewohner am 19. November zu einem Appeasement-Fest mit Schaschlik. Hoch und heilig versprach er, den Ort zu verschonen. „Tags drauf lagen 107 Häuser in Schutt und Asche.“ Wer ist schon Koschman . . .

Das Morden geht weiter

„Dschingis Khan ließ seinen Kriegern drei Tage zum Marodieren“, meint Bella, sie kann und will ihre Aggression wohl nicht verbergen. „Danach galt gleiches Gesetz für alle.“ Die junge Frau ist hasserfüllt, sie hat mit ansehen müssen, wie Söldner – die berüchtigten Kontraktniki – im Vorort Staropromyslowski eine Mutter und ihre beiden halbwüchsigen Kinder – buchstäblich – um die Ecke gebracht haben: „Noch die Leichen klammerten sich an ihre Pässe“. Das Morden geht weiter. Für die Zivilbevölkerung habe der Krieg erst jetzt begonnen. „Sind wir wirklich Terroristen?“

In der Vorstellung der Militärs bringt Bella alle Voraussetzungen der gefürchteten sniper – Scharfschützin – mit. Jung, kräftig und von tiefem, unheilbarem Abscheu gegenüber den Invasoren durchdrungen, wie ihn Leo Tolstoi im „Hadschij Murat“ beschrieben hat: Sie sahen in ihnen keine Menschen – nur Ratten und Ungeziefer.

Anwohner der Fontawaja-Straße schreien und gestikulieren wild durcheinander. Wer will die Klagen der alten Frauen noch hören? Ihre Häuser, obwohl noch bewohnbar, seien gesprengt worden. Aus Sicherheistgründen. In der Schule Nr. 18 haben sich Militärs einquartiert. Deren Angst vor einem Anschlag der Rebellen ist verständlich. Nun sitzen die Ausquartierten im Freien. Zwei Stunden gaben ihnen die Sprengmeister, um die Sachen zu packen. Doch wohin mit dem kompletten Hausstand? Leichte Beute für Marodeure. Eine jammernde Alte, die ihren Hausrat verloren hat, wird barsch von Leidensgenossinnen zurechtgewiesen: „Du und dein Plunder, andere haben kein Haus und keine Familie mehr.“

Der stellvertretende Bürgermeister Ramsan Schapukajew streitet willkürliche Sprengungen ab. Und wenn es doch einmal dazu komme, erhalte jeder Ersatz. Nur wann? Der Bürgermeister im Kampfanzug räumt freimütig ein, Moskau habe bisher noch keine Mittel bereitgestellt. Aus unerfindlichen Gründen findet das Gespräch draußen vor seinem Büro statt, das von Dutzenden von Bittstellern im Sonntagsstaat belagert wird. Dem Gerücht, Grosny werde nicht wieder aufgebaut, das benachbarte Gudermes stattdessen zur Haupstadt erhoben, tritt der Abkömmling eines einflussreichen Clans aus dem Norden vehement entgegen. Die Begründung, 80.000 Einwohner seien inzwischen nach Grosny heimgekehrt, klingt nicht plausibel und die Angaben weit übertrieben. Wo haben sie sich versteckt? Bis Mitte Mai hofft der Stadtvorsteher, den Bürgern mehr als Versprechen geben zu können. Doch daran glaubt hier keiner mehr.

Größere Truppenkontingente sind in der Trümmerstadt nicht stationiert. Der Stützpunkt liegt zehn Kilometer außerhalb in Chankala. Aber auch hier ist die Armee nicht in die beim Abzug aus Tschetschenien 1994 zurückgelassenen Kasernen eingerückt. „Zu hohes Risiko“, so Presseoffizier Andrej. Auf freiem Feld wurde ein gigantisches Heerlager errichtet. Alles ist vertreten, was ein Waffengang erfordert, einschließlich einem Zensor. Wenn die russischen Nachrichten live auf Sendungen gehen, baut sich der Presseobmann so auf, dass der Berichterstatter den spiritus rector nicht aus dem Auge verliert. Danach folgt Manöverkritik; die Drohung, die Arbeitserlaubnis zu entziehen, schwingt immer mit. In Tschetschenien herrscht die Armee, sonst niemand, schon gar nicht das ferne Moskau.

Auf dem Weg durch die hart umkämpfte Argun-Schlucht im bergigen Süden ein Bild totaler Verwüstung, schlimmer als erwartet. Kaum ein Stein steht auf dem anderen. Macht es einen Unterschied, wer die Zerstörung angerichtet hat, Rebellen oder Armee? Jahre wird es dauern, bis sich wieder eine Lebensgrundlage schaffen lässt. Ein ewiger Kreislauf – Saat frischen Hasses. Auf einer Anhöhe westlich des vom Erdboden getilgten und unzugänglichen Dorfes Itum-Kale befindet sich der südlichste Stützpunkt der Armee in den Bergen. Eine Artillerieeinheit aus St. Petersburg liegt hier. Auf den ersten Blick eine beschauliche Atmosphäre. Im Süden, an der Grenze zu Georgien funkeln die mächtigen, noch schneebedeckten Gipfel des kaukasischen Hauptkammes in der Sonne. Hochalpiner Zauber. Soldaten spielen Fußball.

Trügerische Ruhe im Soldatenlager

In kleinen Gruppen, zwischen dreißig und vierzig Leuten, schwärmen Aufklärer einige Tage aus, um Waffenlager und Nachschubdepots der Rebellen auszukundschaften. „Eine schwierige Aufgabe, wir sind im Nachteil, da nicht bergerfahren und der Gegend unkundig“, meint ein sympathischer junger Offizier im Stakkato. Er zählt die Tage, bis er endlich zurück zur Familie kann. Hält die Ruhe vor? Nur einfache Dienstgrade sprechen es aus. Vor der Schneeschmelze, wenn sich die Berghänge in einen undurchdringlichen Dschungel verwandeln, möchten sie hier unbedingt weg sein. Aber die Ruhe ist trügerisch.

Freie Tage verbringen höhere Dienstgrade und Söldner in der nordkaukasischen Garnisonsstadt Mosdok. Wer es sich leisten kann, tankt hier auf, buchstäblich. Schon am frühen Morgen torkeln Kontraktniki bewaffnet mit MP, Dolch und Wodka durch die Straßen. Kriminelle Visagen, die besten Bluthunde, die sich ein Kommandeur wünschen kann. In der Hotelbar wird der Stress abgelassen, hier siegt die Wahrheit: „Wir hätten sie alle ausrotten müssen, ein nutzloses Volk, daher machen wir keine Gefangenen“, erzählt der Brigadeoffizier im Schutz der Anonymität. Er verachtet die Politiker mit ihren (recht seltenen) Warnungen zur Mäßigung. Besonders in Rage bringt ihn das Schicksal Major Juri Budanows. Der hatte ein junges Mädchen aus Tangi vergewaltigt und mit bloßen Händen erwürgt. An ihm will der Kreml mit Blick nach Westen nun ein Exempel statuieren. „Krieg ist dreckig, dergleichen ist kein Einzelfall. Budanow wird jetzt zum Sündenbock gemacht.“

Frauen verdienen kein Pardon: „Dreißig Prozent von ihnen sind garantiert sniper.“ Wie die Mutter der Ermordeten angeblich, die sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht haben soll. Die Tochter musste dran glauben. „Ungerecht , aber Familie ist Familie“, meint er mit einem zynischen Lächeln, während er moldawischen, „unseren russischen“ Rotwein hinunterstürzt und zum Wodka übergeht. Er hat einiges runterzuspülen. Nicht nur Kaukasier, auch Amazonen scheint er zu fürchten. Tage später in den Fernsehnachrichten erhält dieser kugelige Krieger zufällig Namen und Rang: stellvertretender Brigadekommandeur Wladimir I. aus dem Fernen Osten.

Auf einen Metallcontainer am Minutka-Platz in Grosny hat jemand „Ich will nach Hause“ gepinselt. Es hätte Sergej sein können, ein junger Offizier wie aus dem Bilderbuch, der oben in den Bergen seinen Dienst tut. Dort schwieg er. In Mosdok sucht er den Kontakt. Wir verabreden uns auf der Straße. „Gott wird uns eines Tages für unsere Bestialität bestrafen“, meint Sergej verwirrt. Man solle dieses Volk doch leben lassen. Wenn das Ausland nichts unternehme, versinke der Kaukasus in der Katastrophe. In Lermontow-Jurt und im Westen Tschetscheniens, erzählt er, raffen Typhus und Diphterie inzwischen Bevölkerung und Soldaten dahin. Und zu allem werde geschwiegen. „Ich bin Offizier und ein Sklave“, sagt er, bevor er zu einem kranken Kameraden ins Krankenhaus aufbricht. „In die Hölle“.

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