: Der letzte Aktienfeind
von VERENA KERN
Es gibt Wörter, die Henry Mathews ganz besonders liebt. Eines davon ist das Wort „Tatsache“. Im Gespräch stößt es aus dem Redefluss wieder und wieder hervor, wie eine glitzernde Forelle. „Seit dem Fall der Mauer“, sagt Mathews etwa, „ist der Kapitalismus – Tatsache! – noch viel schlimmer geworden.“
Mathews ist Geschäftsführer des Dachverbandes der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre. Er hat eine Mission. Wider den Kapitalismus, den großen, übermächtigen Feind. Sein Verband funktioniert wie ein Trojanisches Pferd. Er agiert nur deshalb als Aktionärsvertretung, um sich die Möglichkeiten zu Nutze zu machen, die das deutsche Aktienrecht Anteilseignern einräumt. Denn wer Aktien besitzt, ist Teilhaber des Unternehmens und verfügt damit über Stimm- und Auskunftsrechte.
Mathews ist fast von Anfang an dabei, zunächst ehrenamtlich, seit 1991 als hauptberuflicher Geschäftsführer des Dachverbandes. Ihm geht es darum, „die Menschen ans Nachdenken zu bringen über unser Wirtschaftssystem und die Politik der großen Konzerne“. Der Versuch, seine Kapitalismuskritik dort zu platzieren, wo er einen der inneren Zirkel des Kapitalismus vermutet, hält er auch nach zehn Jahren noch für einen „sehr spannenden Ansatz“.
Hotel Steglitz International, im Berliner Süden. Die Lobby ist ganz in dunklem Braun gehalten. Der schwere Farbton des Teppichs, der Wandverkleidungen und der Ledersessel, die um drei Couchtische gruppiert sind, wirkt wie aus einer vergangenen Zeit, in der eine kuschelige Wertegemeinschaft von Sicherheit erzählte und davon, wo die Menschen ihren Platz haben. Irgendwo hat irgendwer in die Musikbeschallungsanlage des Hauses eine Konserve mit süßlichen Feierabendmelodien gegeben.
Auf einem der Sessel sitzt Henry Mathews, raucht, trinkt Kaffee. Diesmal ist er von Köln nach Berlin gereist, um seine Eltern zu besuchen. Die elterliche Wohnung ist klein und eng. Mathews zieht es vor, im Hotel zu wohnen. Er ist einer, der aus der Distanz heraus agiert, der Distanz braucht. Fragen zu seinem Privatleben weicht er aus.
Wie immer trägt er Arbeitskleidung, dunkle Hose, dunkles Sakko, Rollkragenpullover. Seriös sieht er aus, respektabel. Er, das geschäftsführende Vorstandsmitglied des Dachverbandes der Kritischen Aktionäre und gerade erst 33 Jahre alt, könnte auch einer jener alterslosen Anzugträger aus den Vorstandsetagen der Konzerne sein, gegen die Mathews mit einem Arbeitsaufwand von 60 Wochenstunden kämpft. Nur sein Markenzeichen, der Zopf, zu dem er das lange, schüttere Haar streng gebunden trägt, signalisiert, dass er als einer gesehen werden will, der sich nicht vereinnahmen zu lassen gedenkt.
Nur selten lehnt er sich im Gespräch, für einen Moment entspannt, im Sessel zurück. Sofort schnellt er wieder nach vorne. „Belegschaftsaktien“, sagt er, „sind eine ganz gefährliche Sache“. Auch das Wort „perfide“ fällt. „Die Arbeitnehmer sollen anfangen, wie Kapitalisten zu denken und ihre eigenen Interessen aus den Augen verlieren.“ Mathews spricht in Ausrufezeichen. Nicht einmal muss er dabei die Stimme heben. Es geht ihm ja um Tatsachen. Um die Tatsachen, die andere nicht sehen können oder nicht sehen wollen.
Zum Beispiel die Tatsachen über Schering. Der Berliner Pharmakonzern hat heute seine Hauptversammlung, und Mathews wird auch dort nicht fehlen. Schering hat, so sagt Mathews, Medikamente in die Dritte Welt verkauft, die in Deutschland schon längst verboten sind; hat seine Werksarbeiter in Lima Formaldehyd-Dämpfen ausgesetzt und mit UV-Licht verstrahlt. „Es geht darum, Missstände aufzuzeigen“, sagt Mathews mit der Ungeduld desjenigen, der es grundsätzlich besser weiß, „und das System dahinter.“
Auf den Hauptversammlungen der Schering AG und anderer Großkonzerne, bei denen Mathews Jahr um Jahr seine Tatsachen vertritt, agiert er wie jemand, der keine Zeit zu verlieren hat. Zwischen seinen Redebeiträgen hält ihn nichts auf seinem Platz. Geschäftig durchschreitet er die Sitzungssäle. Führt informelle Gespräche mit diesem und jenem. Verteilt die Jahresberichte seines Verbandes, die er selbst erstellt hat und in denen zwei, drei Fotos von ihm, dem Guerillero im Kampf gegen die Großfinanz, nicht fehlen dürfen.
Dem Jahresbericht hat Mathews als Motto ein Zitat aus Goethes „Prometheus“ vorangestellt. „Wer half mir wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei? Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ Der Rebell als romantisch verklärter Held. Ein Selbstporträt.
Mathews selbst besitzt keine Wertpapiere mehr. Anfangs kauften die Kritischen Aktionäre jeweils eine einzige Aktie, um Hauptversammlungen besuchen zu können und nicht nur draußen, vor den Türen der Sitzungssäle, ihre Transparente hochzuhalten gegen Atomkraft, Rüstungsexporte, Umweltverschmutzung. Inzwischen arbeiten sie mit Stimmrechtsübertragungen durch unzufriedene Kleinaktionäre, die Hände bleiben sauber. Keiner soll sagen können, sie, die Kritiker der besseren Moral, verurteilten Konzerne, an denen sie selbst beteiligt sind.
Henry Mathews ist ein Lobbyist. „Extrem ehrgeizig“ sei er, sagt einer, der über Jahre mit ihm zusammengearbeitet hat. Ein „gefährlicher Gegner“, jemand, den man nicht zum Feind haben will. Auch von „Verbissenheit“ ist die Rede.
Aber Mathews hat auch schon für die Gegenseite gearbeitet. Als freier Journalist belieferte er auch das Verbandsblatt der Kölner Industrie- und Handelskammer. Die Vorstellung, quasi undercover für den Gegner zu arbeiten, amüsierte ihn. Der lukrative Nebenjob endete, sagt Mathews, als Bayer davon Wind bekam und ihn auf die „schwarze Liste“ setzte. Schwarze Liste?
Eine Mischung aus Spott und Ungläubigkeit quillt aus seinen blauen Augen, wenn Zweifel erhoben werden an dem, was für ihn so offensichtlich ist. „Die Macht der Konzerne reicht weit“, sagt Mathews. Und dann erzählt er die Geschichte von Bayer und Gregor Gysi.
Anfang der Neunzigerjahre sollte der PDS-Star im Namen der Kritischen Aktionäre auf der Bayer-Hauptversammlung auftreten. Als Überraschungsgast, so sah es Mathews’ Dramaturgie vor. Die Einladung wurde geheim gehalten. Aber vor dem Versammlungssaal sprachen ihn, sagt Mathews, zwei Polizeibeamte an: Sie hätten von Bayer erfahren, dass Gysi kommt und seien zu seinem persönlichen Schutz abgestellt.
Gysi kam nicht, aber Mathews hatte seinen Beweis. „Wer in Deutschland konzernkritische Arbeit macht, muss sich auf einiges gefasst machen.“ Post werde geöffnet, das Telefon abgehört. Dieses seltsame Knacken in der Leitung, und plötzlich ist die Verbindung unterbrochen. „Das ist Tatsache“, sagt Mathews. „Aber“, sagt er, „es passiert immer so, dass man es merkt. Das ist der Sinn der Sache: Einschüchterung.“
So also ist es: der große Kapitalismus und seine kleinen Kritiker, deren einzige Waffe die Öffentlichkeit ist, und die Bedrohung durch unschöne Schlagzeilen. Und die moralische Überlegenheit.
Es klingt nach Paranoia, zumindest aber nach dem starken Bedürfnis nach klaren Grenzen und klaren Rollenzuteilungen. Dort die Großkonzerne, denen es um Macht und Geld geht. Und hier der Weltverbesserer, der sein Lebtag nichts anderes wollte als gegen die Ungerechtigkeiten der Welt anzutreten.
Wer auf scheinbar verlorenem Posten kämpft, muss den Gegner überhöhen, um selbst besser dazustehen. Es ist der Versuch, ein Weltbild zu verteidigen, das längst nicht mehr zu retten ist. Die Macht auch der großen Konzerne schwindet seit Jahren zu Gunsten von international agierenden Analysten und Fondsmanagern. Aktienkurse werden mehr durch Fantasie als durch Profitraten getrieben. Newcomer erreichen am Neuen Markt binnen weniger Monate einen höheren Börsenwert als der vermeintliche Dax-Gigant Schering.
Auf Hauptversammlungen ist die Welt noch in Ordnung. Das Feindbild stimmt, wenn die Anträge der Konzernspitze Zustimmungsquoten von über 95 Prozent erhalten. Es sind Zustände wie bei Honecker und Co., mitten im Herzen der Marktwirtschaft. Eine hübsche Pointe, für die einer wie Mathews jedoch keinen Sinn hat. Weil es ihm bitter Ernst ist. Weil er, der Distanzierte, keine Distanz hat. Weil das Dasein als Kritiker, als einer der wenigen verbliebenen Linken, die sich dem gigantischen Zirkus des großen Geldes entgegenstellen, sein Lebensinhalt ist.
Seine Gegner haben sich an ihn gewöhnt. „Ich habe keinen Grund, Herrn Mathews zu kritisieren“, sagt Gert Wlasich, der als Presse- und Umweltreferent von Schering jahrelang mit Mathews zu tun hatte und heute Leiter des Scheringianums ist, des hauseigenen Archivs und Museums. Der Herr Mathews wird ernst genommen, wird zu Streitgesprächen in die Konzernzentrale eingeladen, wo Schering sich müht, seine Vorwürfe zu entkräften. Und ab und an lässt Mathews eine Verabredung platzen. Um unberechenbar zu bleiben, so wie es sich für einen echten Guerillero gehört.
Kritik kommt von anderer Seite, von jenen, die selbst als Aktionärskritiker arbeiten, als Interessensvertretung der Privatanleger, und auf jährlich rund 800 Hauptversammlungen auftreten. In ihren Augen ist es befremdlich, sogar anmaßend, dass sich ein Verein, der sich mit lediglich 30 Großkonzernen beschäftigt, „Kritische Aktionäre“ nennt und damit den Anspruch, die legitime Stimme der Kritik zu sein, für sich okkupiert. „Herr Mathews hat sich ein ungeeignetes Feld ausgesucht für seine Ideologiekritik“, sagt Reinhild Keitel, Vorstandsmitglied der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre. „Er müsste in die Politik gehen, seine Vorstellungen politisch durchzusetzen versuchen.“
Tatsächlich spielt Mathews mit diesem Gedanken. Denn es muss weitergehen. Seine Möglichkeiten als Verbandsgeschäftsführer hat Mathews ausgereizt. Noch hat er sich nicht entschieden. Nur eines ist klar: Niemals bei den Grünen. Sie, sagt Mathews, sind längst keine linke Partei mehr, nach dem Rauswurf von Jutta Ditfurth und ihresgleichen in den Achtzigerjahren gab es nach dem Kosovokrieg „die zweite Säuberungswelle“.
Säuberungswelle? Ja, sagt Mathews. Auch das ist für ihn eine Tatsache.
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