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„Ihme nicht befehlen lässet“

Sezierer auf dem Seziertisch: Die Historikerin Maren Lorenz analysiert die Normierungsfunktionen der Gerichtsmedizin  ■ Von Jakob Michelsen

Scheinbar gibt es kaum etwas Unhistorischeres als den Körper und seine Krankheiten: Das biologisch Vorgegebene muss nur „richtig“ gesehen, das heißt empirisch dingfest gemacht werden – „objektiv“ und ohne Ansehen der Person. Im kollektiven Bewusstsein dominiert seit der Aufklärung das Bild vom heroischen Wissenschaftler, der Physis und Psyche des Menschen ihre Geheimnisse entreißt und mit mittelalterlichem Aberglauben aufräumt: Aus „Besessenen“ wurden so beispielsweise „Geisteskranke“. Seit dem 19. Jahrhundert setzt dieses Konzept in der westlichen Welt Maßstäbe für die Sicht auf die Welt – weit über den akademischen Bereich hinaus. In den letzten Jahren jedoch wurde dieser Wahrheitsanspruch zunehmender Kritik unterzogen; Wissenschaftsgeschichte unter dekonstruktivistischen, feminis-tischen und historisch-anthropologischen Vorzeichen seziert die Konstrukte der Sezierer und zeigt deren Bindung an Geschlecht, Klasse und andere historische Umstände auf.

Die in der Hamburger Edition nun publizierte Dissertation von Maren Lorenz Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter widmet sich einer besonders interessanten Quellengruppe: Sie analysiert gedruckte Fallsammlungen von Gerichtsmedizinern aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Diese Texte haben den Vorzug, dass sie nicht nur theoretische Gelehrtendispute widerspiegeln, sondern die medizinische Praxis und die Kommunikation zwischen Ärzten und Begutachteten. Sie zeigen anschaulich den durchaus widersprüchlichen, keineswegs geradlinigen Prozess der Durchsetzung bürgerlich-wissenschaftlicher Definitionsmacht.

Weil Gerichtsmediziner alles Mögliche zu begutachten hatten – von der Zeugungsfähigkeit über verdächtige Kindstode bis zur Frage der Zurechnungsfähigkeit einer/eines DelinquentIn – kommen vielfältige gesellschaftliche Konfliktfelder in den Blick. Da sind zum Beispiel Scheidungsverfahren: Eine der häufigsten, weil Erfolg versprechends-ten Begründungen für den Wunsch nach Trennung war Impotenz des Mannes bzw. Unfruchtbarkeit der Frau. Dahinter werden jedoch häufig genug ganz andere Eheprobleme sichtbar, etwa gewalttätige Ehemänner oder einfach gegenseitige Abneigung. Der Blick der Mediziner war jedoch meist derart auf die Fortpflanzungsfähigkeit fixiert, dass der Impotenz bezichtigte Ehemänner nicht selten zum Masturbieren antreten mussten – obwohl gleichzeitig Pädagogen und Mediziner die angebliche Gesundheitsschädlichkeit der Onanie entdeckt und einen regelrechten Kreuzzug gegen das „heimliche Laster“ begonnen hatten. Wenns nicht klappte, zeigten die Gutachter Verständnis, denn es sei ja bekannt, dass „dieses Glied seinen eigenen Kopff hat und ihme nicht befehlen lässet“.

Mit der Sexualität von Frauen wurde rigoroser verfahren. Während die aktive, auch aggressive, Äußerung sexueller Bedürfnisse bei Männern als normal galt, wurde entsprechendes Verhalten bei Frauen kriminalisiert und pathologisiert. Eine Dienstmagd, die einem Knecht „aufm Boden (...) um den Hals gefallen“ war, „ihn geherzet, und zur Unzucht initiieret“ hatte, konnte nur unter einer im Uterus verursachten Störung des Säftehaushalts, der „Mutterwut“, leiden und wurde eingesperrt. Überhaupt galt die Gebärmutter als das zentrale Organ, das Frauen für alle möglichen Krankheiten anfällig machte und medizinisch zum „schwachen Geschlecht“ stempelte.

Neben der traditionellen Säftelehre kamen im Lauf des 18. Jahrhunderts zunehmend die Nerven ins Spiel, aber die weibliche „Hysterie“ als Modekrankheit des 19. Jahrhunderts war längst vorgezeichnet. Hingegen gingen die Mediziner bei Vergewaltigungsklagen davon aus, eine Penetration – andere Formen sexueller Gewalt galten ohnehin nicht – sei gegen den Willen der Frau praktisch unmöglich, denn sie könne sich ja wehren. Der Widerspruch zur Behauptung weiblicher Schwäche fiel den gutachtenden Männern nicht auf.

Kleinere Kritikpunkte finden sich in jedem noch so guten Buch, insgesamt geht die Hamburger Historikerin aber mit erfreulicher Sorgfalt angesichts der oft widersprüchlichen Stimmen aus der Vergangenheit vor. Überzeugend gelingt es ihr so, die Etablierung der empirisch-aufklärerischen Medizin als normsetzende Macht nachzuzeichnen; einer Medizin, die vom Menschenbild des bürgerlichen Mannes geprägt war und somit keineswegs „objektiver“ und per se „wahrer“ ist als ihre vormodernen Ahnen.

Maren Lorenz, Kriminelle Körper - Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999, Hamburger Edition 1999, 495 S., 68 Mark

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