: Lokschenkiegel und Matzekneidlach
Koschere Küche in Berlin: Eine kleine orthodoxe Minderheit in der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands lebt nach den strengen religiösen Speiseregeln. Schwein und Meeresfrüchte sind verboten, Giraffen sind erlaubt. Ein Gespräch mit dem Rabbiner Jitzhak Ehrenberg
von MANFRED KRIENER und WALTER SALLER
Die Kippa, das schwarze Käppchen auf dem grauen Schopf des Berliner Rabbiners Jitzhak Ehrenberg, führt ein behendes Eigenleben. Sie rutscht von der Stirn in den Nacken, tanzt vom linken zum rechten Ohr. Die kreisende Kopfbedeckung, von fürsorglichen Händen immer wieder in die richtige Position gebracht, signalisiert höchste Konzentration. Der Rabbi redet vom Essen. Und damit spricht er nicht von Messer und Gabel, sondern von Gott und Moses, von Thora und Talmud. Der gefüllte Teller ist für den frommen Juden eine tief religiöse Angelegenheit. Die Speisegesetze sind zentraler Bestandteil der mehr als sechshundert Gebote und Verbote des orthodoxen jüdischen Glaubens. Keine andere Religion kennt ein derart umfängliches Regelwerk, das im Talmud bis ins Detail festlegt, welche Lebensmittel und welche Zubereitungen, welches Fleisch und welcher Fisch „koscher“ sind oder „trejfe“, rein oder unrein, erlaubt oder verboten.
„Gott bestimmt, was gut ist für unseren Körper und für unsere Seele, und Moses hat es in seinen fünf Büchern aufgeschrieben.“ Damit ist für einen gottesfürchtigen Mann wie den Rabbiner eigentlich alles gesagt. Doch wie die Bestimmungen genau zu interpretieren sind, darüber streiten jüdische Gelehrte seit Jahrhunderten. Ist ein am Sabbat, dem heiligen Ruhetag, gelegtes Hühnerei koscher? Wie viele Stunden müssen zwischen den strikt zu trennenden Fleisch- und Milchmahlzeiten vergehen? Und können ein paar Tröpfchen verschüttete Milch wirklich eine ganzes Hochzeitsessen ruinieren?
Im wolkigen Streit um „Kaschrut“, die Speisegesetze der koscheren Küche, ist der Berliner Rabbiner alles andere als ein buchstabenbesessener Eiferer. Weltoffenheit und ein gesunder Pragmatismus bestimmen sein Judentum. „Die Thora verlangt nicht, dass wir uns vom Leben abwenden, Gott hat diese Welt geschaffen, damit wir sie genießen.“ Ehrenberg verschiebt behutsam sein Käppchen und fügt hinzu: „Aber nicht wie die wilden Tiere!“
Blut, die Essenz des Lebens, ist deshalb für jeden orthodoxen Juden tabu. Das Fleisch muss sorgsam davon befreit werden. Die Tiere werden dazu vom „Schochet“, dem jüdischen Schlachter, geschächtet. Ohne Betäubung wird dem Tier mit einem geschärften Messer der Hals durchschnitten, damit es ausbluten kann. Die rituelle Tötung treibt nicht nur Tierschützern den Schweiß auf die Stirn. Auch Rabbi Ehrenberg hat nach seinem ersten Besuch im Schlachthof ziemlich schlecht geschlafen: „So eine große Kuh, aufgehängt, lebendig, und auf einmal wird sie geschächtet. Aber gut, wir müssen es tun.“
Berlin hat keinen jüdischen Schlachthof mehr. Für die frommen Juden wird auf einem Bauernhof unweit der polnischen Grenze geschächtet. Aber es gibt noch eine koschere Metzgerei. Maurice Elmaleh betreibt sie im Bezirk Charlottenburg. Hier wird das geschächtete Fleisch zerlegt, und es wird „nachgekoschert“: Elmaleh wässert Kalbsrücken und Rinderkeulen, dann wird kräftig eingesalzen. Wasser und Salz holen den letzten Rest Blut heraus, der Halsschnitt allein genügt nicht.
Doch die Metzgerei in der Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands läuft eher schlecht. Tausende aus Russland zugewanderte Juden haben keinen Bezug zu Religion und Tradition. Von den 12.000 Berliner Juden befolgt nur eine Minderheit die Kaschrut-Regeln: Schwein, Pferd, Esel oder Kaninchen sind verboten. Erlaubt sind die meisten Geflügelarten und Wiederkäuer mit gespaltenem Huf. Rind und Kalb, Lamm und Huhn dürfen ins Töpfchen, die meisten Rabbiner genehmigen auch Hirsch und Reh. Eigentlich sind sogar Giraffen erlaubt.
Doch nicht nur Fleisch, auch Wein und Brot, Honig und Schokolade, Tee und Zucker sind der Aufsicht der Rabbinate unterworfen und werden als koscher zertifiziert. Normale Supermärkte sind verbotenes Terrain. Die orthodoxen Berliner Juden sind auf die drei Koscherläden der Stadt angewiesen. Einer von ihnen, das „Kolbo“, befindet sich auf historischem Gebiet im alten Scheunenviertel.
Hier lebten bis in die Dreißigerjahre mehrere zehntausend Juden. Der Bezirk, heute touristisches Highlight, war das Wohnrevier der ärmeren Juden. Die Wohndichte war fünfmal höher als in der übrigen Stadt. Schuster, Schlachter, Gemüseläden, Bäcker, koschere Speise- und Betstuben prägten das Bild. 1938 brannten die Betstuben. 1942 begannen die Deportationen in die Vernichtungslager. 55.000 Juden passierten das Sammellager des Scheunenviertels in der Großen Hamburger Straße. Und auf dem geschändeten Judenfriedhof nebenan spielten SS-Männer Fußball mit Totenschädeln. Nach der Naziherrschaft war das Scheunenviertel ein Abbruchbezirk im Ostberlin der SED. 1989, nach der Epochenwende, entdeckten Künstler und Aussteiger den Charme der heruntergekommenen Stadtlandschaft. Und die jüdische Gemeinde zeigte neue Präsenz.
Heute gibt es neben der Synagoge der „Adass Jisroel“-Gemeinde und dem Restaurant Beth auch wieder einen Koscherladen: das im Frühjahr 1992 eröffnete Kolbo, ein wohnzimmergroßes Tante-Emma-Geschäft. Lebensmittel, Weine und Ritualien werden verkauft. In der Kühltruhe liegen eingeschweißte Hähnchen und Rindergulasch aus Amsterdam. Matze, das ungesäuerte, aus Mehl und Wasser zubereitete Brot, wird auch aus französischer Produktion angeboten. Es erinnert an die Flucht aus Ägypten, als den Kindern Israels keine Zeit blieb, den Sauerteig anzusetzen. An „Pessach“, dem Fest der Befreiung von pharaonischer Herrschaft, wird sie sechs Tage lang auch in manch säkularisiertem Haushalt gegessen. Die Warnung der Jerusalem Post vor Dehydrierung bei extremem Matzegenuss ist berechtigt, das Brot ist staubtrocken.
Die Preise für die Importwaren im Kolbo sind schon saftiger. Da mag den frommen Esser trösten, dass der koschere Braten nicht nur gottgefällig, sondern auch gesund ist. Rabbiner Ehrenberg steigt hinab in die Theorie der Körpersäfte, erklärt uns die enzymatische Aufspaltung von Proteinen und gibt sich überzeugt, dass Milch und Fleisch zusammen „die Verdauung stören“. Neben den digestiven Vorteilen sieht er eine Art Qualitätskontrolle in den strengen Regeln. „Erinnern Sie sich noch an den Weinskandal in Österreich? Der einzige Wein ohne Glykol war der koschere.“
Um den Salat koscher zu machen, wird auch Chemie eingesetzt. Unkoschere Würmchen oder Läuse sind tabu. Zur Sicherheit wird der Salat in den Speiselokalen zusätzlich in Essigwasser gelegt. Berlin hat nur zwei koschere Restaurants: Eines ist das Beth-Café im Scheunenviertel. Auf der Karte stehen alte jiddische Gerichte: Eierhäckerle mit Mohnzopf, Suppe mit Matzekneidlach (Matzeknödeln), Knisches (Hefeteig mit Kartoffelfüllung), der berühmte gefilte Fisch und als Dessert Lokschenkiegel, ein süßer Rosinenauflauf. Die Küche ist einfach, aber koscher.
Auch der Tscholent, ein Sabbat-Klassiker, steht auf der Karte. In traditioneller Variante besteht dieser Eintopf aus Rinderbrust und Bohnen, Zwiebeln, viel Fett, Graupen und zerkochtem Gemüse. Weil am Sabbat kein Feuer entzündet werden darf, kommt der Topf am Vorabend auf den Herd und köchelt dann bis zu 24 Stunden. Elektrische Tscholent-Tiegel wurden eigens entwickelt, um die graue Traditionsspeise warm zu halten. Früher stellten die Bäcker den Tscholent in ihren Backofen.
Ehrenberg zieht dem fettigen Traditionseintopf „gefilten Fisch“ vor. Seinen Favoriten isst er allerdings ausschließlich am Sabbat, weil dem Gericht an einem normalen Werktag die „bestimmte Wirze“ fehlen würde. Er lächelt, schiebt die absturzgefährdete Kippa ins Zentrum und gibt uns noch eine versöhnliche Erkenntnis mit auf den Weg. Die Speisegesetze, sagt er, seien zwar streng. Aber Gott habe es so eingerichtet, dass niemand verzichten müsse. Nicht einmal aufs Schweinefleisch. Ehrenberg: „Es gibt ein bestimmtes koscheres Fischlein, das hat genau dasselbe Aroma!“
MANFRED KRIENER, 46, und WALTER SALLER, 43, sind freie Journalisten in Berlin. Kriener schreibt gern über Gift, Atom, Medizin und Food, Saller liebt anstrengenden Reisejournalismus mit obskurantistischem Beiwerk.
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