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Rolling Stein

Peter Stein hat Freunde gesucht und gefunden – vor der Premiere des kompletten „Faust“ versammelte sich der „Freundeskreis Faust“ noch einmal in Hannover

von KLAUS IRLER

Einer ist aus K und der andere kommt aus HM und aufeinandergestoßen sind sie noch vor der Eröffnung, auf dem Weg zum Parkplatz, beim Linksabbiegen. Im Anzug stehen sie im Nieselregen, der eine rauft sich die Haare, der andere begutachtet den Blechschaden. Eine blonde Ehefrau in Stöckelschuhen schreit über die Straße, will wissen, ob sie die Polizei rufen soll. Der mit dem Blechschaden winkt ab. Man ist ja unter Freunden, da regelt man so was unkompliziert.

Im Eingangsbereich der alten Industriehalle in Hannover-Linden staut es sich schon an der Garderobe. Peter Stein läuft nervös Richtung Bühne, zwirbelt sich den Bart und gibt Anweisung, das Areal nach zusätzlichen Stühlen abzusuchen. Es wird noch eine Busladung voller Freunde erwartet, und die Halle hat nur 450 Plätze – so viele wie die Spielstätte auf dem Expo-Gelände.

„Faust hat Freunde gesucht und gefunden“, stand im letzten Rundbrief. Und „Faust“ hat immer dieses lästige Problem mit den Sitzplätzen, sei es bei den Aufführungen, den Hauptproben oder bei dem Freundeskreistreffen. Der Freund ohne VIP-Status muss früh aufstehen, will er sitzen. Dreihundert Mark Mitgliedsbeitrag hin oder her.

Für die Begrüßung erhebt sich erst mal Hilmar Kopper, sonst Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank, heute anwesend als Vorsitzender des Freundeskreises. Es gibt gute Nachrichten: Rund 850 Mitglieder seien es jetzt, beim letzten Treffen im Oktober waren es erst halb so viele. Derzeit seien gut 400.000 Mark auf dem Konto, dank Spenden. Im Übrigen, wird Stein später sagen, gehe es ja nicht ums Geld, sondern um die Idee und deren Verteidigung. Peter Stein, Geschäftsführer der eigens gegründeten „Faust Ensemble GmbH“, sagt’s immer wieder, auch diesmal: „Dass Sie in den Freundeskreis eingetreten sind, stützt uns auch psychologisch, in den gesellschaftlichen Raum hinein. Sie müssen davon ausgehen, dass das Faustprojekt gnadenlos verrissen wird.“

Also werden die Freunde mobilisiert. Die Freunde sind geschlossen jenseits der fünfzig und haben entweder studiert oder Geld oder beides. Die mit Geld wissen, dass das Wichtigste eines Freundeskreistreffens das Buffet danach ist, um die Bündnisse zu schließen, mit denen die Schlachten im gesellschaftlichen Raum geschlagen werden. Einige haben auch das schon hinter sich, sind jenseits der siebzig und besetzen die besseren Plätze ganz unmittelbar, ohne Absprachen, zum Beispiel durch eine über drei Stühle hinweg quergelegte Krücke. Sie wollen so nah wie möglich herankommen an Stein, seinen Unternehmergeist, seine Erfahrung, seine Schauspieler, wollen mitverfolgen, wie der alte Faust neu geboren wird durch „Steins Vision“.

Bis es so weit ist, müssen sich die Freunde aber noch gedulden. Im Vorprogramm lesen Bruno Ganz und Christian Nickel (der junge Faust) den letzten Briefwechsel des über 80-jährigen Goethe mit Humboldt. Dann hat Professor Albrecht Schöne das Wort, auch schon ein reiferes Semester, und spricht über Goethes „Alterstechnik der Arbeit“. Der Professor schenkt den Freunden nichts. Trostlos liest er Germanistikfloskeln vom Blatt, als wären es lateinische Bibelverse. Die Freunde werden unruhig, schneuzen sich, rutschen auf den Stühlen. Was als intellektuelle Aufrüstung zur gesellschaftlichen Gegenoffensive gedacht war, wird zu einem rhetorischen Debakel.

Immerhin sind die Freunde jetzt bereit für den Hauptact. Stein kommt auf die Bühne und ist sofort präsent, ohne Aufwärmphase. Er steht, statt zu sitzen, spricht frei, statt abzulesen, steht im Lichtkegel, statt dahinter – das Silberhaar glänzt heilig. Das lange Warten hat sich gelohnt. Breitbeinig erzählt Stein von der Probenarbeit, von Problemen, Erkenntnissen und Tiefpunkten. Ein Witz über das „Wichsen“ (in „Faust II“), eine Spitze gegen das Expo-Establishment und gesponserte Eintrittskarten für die Jugend. Szenenapplaus.

Schnörkellos plaziert Rolling Stein Outcastromantik im Publikum, das Credo, das alle verstoßenen Anhänger der Werktreue eint: „Ich bin einer, der verissen wird, weil ich out bin. Sehr tröstlich zu wissen, dass es Leute gibt, die genauso out sind wie ich.“ Langer Szenenapplaus. Die Freunde werden im gesellschaftlichen Raum zusammenstehen, den Faust in der Tasche.

Nach einer knappen Stunde ist Steins Auftritt vorbei, der rituelle Höhepunkt aber kommt noch. Jeder Freund soll aktiv Anteil haben an der Probenarbeit: „Wir benutzen Sie als Versuchskaninchen.“ Es geht um den Karneval aus „Faust II“, eine Szene, bei der die Zuschauer im Stehen einem Karnevalszug zusehen, als Hochkulturjecken also mitinszeniert werden. Stein dirigiert die Freunde, bis alles stimmt, gibt das Stichwort und lässt seine Schauspieler durch die Halle tänzeln.

Einige Freunde ziehen die Schuhe aus und klettern vorsichtig auf Stühle, um mehr als nur die Rücken der ersten Reihe zu sehen. Standing Ovations. Stein beendet das offizielle Programm: „Ich habe noch vierzig Flaschen selbst hergestelltes Olivenöl mitgebracht. Das können sie handsigniert kaufen.“

Die Aftershowparty kann beginnen. Für alle, die was vorhaben, wird ab jetzt Politik gemacht. Für alle anderen gibt es ab jetzt die Möglichkeit, die Schauspieler kennen zu lernen. Schauspieler erkennt man daran, dass sie unter dreißig Jahre alt sind. Tragische Szenen: Die Frau eines Juristen muss den jungen Künstlern erzählen, dass sie eine „verhinderte Germanistin“ sei – verhindert wegen „dem da“, den hätte sie geheiratet und das Studium abgebrochen. Ein FDP-Kommunalpolitiker doziert mit vollem Mund über das Phänomen der „deutlichen Aussprache“, die sei das A und O des guten Schauspielers. Nach anderthalb Stunden kommen die Busse, Zeit für die Freunde zu gehen. Wer kein Olivenöl mehr bekommen hat, wird zumindest eine Videocassette mit nach Hause nehmen, eine dreiminütige Dokumentation des letzten Treffens, produziert von Sponsor DaimlerChrysler. Zu Hause im Briefkasten wird schon Post warten, das Exklusivangebot für die Freunde, vorab Karten für den „Faust“ in Berlin zu buchen. Die Freunde werden wieder dabei sein, wenn beim nächsten Treffen im Herbst Zwischenbilanz gezogen wird. Sie werden Peter Stein begleiten, wenn er den Faust von Hannover über Berlin nach Wien bringt. Und wenn sie auch nicht sitzen dürfen, sie werden hinter ihm stehen, egal, wie gnadenlos vorne der Orkan der Kritik wütet.

KLAUS IRLER lebt als freier Autor in Hildesheim

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