DER SCHWERPUNKT NATUR IST BEI DER EXPO VOR ALLEM VIRTUELL: Exklusives Massenerlebnis
Der Boden ist weich, federnd. Vorbei an dicht stehenden Nadelbaumstämmen führt der Weg um eine scharfe Kurve und gibt den Blick frei auf einen See. Morgenstimmung. Vögel zwitschern. Ein paar Schmetterlinge tänzeln über den Binsen am Ufer. Plötzlich werden die Menschen still. Sie stehen in einem abgedunkelten Raum und blicken gebannt auf eine Tapetenlandschaft. Für ein paar Sekunden funktioniert das Gefühl, wirklich in der Natur zu sein.
Mensch–Natur–Technik lautet das Motto der Expo in Hannover. Scheinbar gleichwertig stehen die Begriffe nebeneinander. Doch während Technik sowohl Mittel als auch Inhalt der Ausstellung ist, kann Natur auf solch einer Veranstaltung nicht gegenwärtig sein. Um sie besser zu verstehen, müsste der Mensch abstrahieren. Um ihr unmittelbar zu begegnen, müsste er sich bewegen – und nicht die Natur zu sich holen wollen.
Die Weltausstellung in Hannover versucht dennoch die Natur zu holen, denn sie will sinnliche Eindrücke evozieren. Die Mittel, etwas Abwesendes zu zeigen, sind Imagination und Imitation. Dabei geht es um den Schein – für den Menschen gemacht. So wird Natur auf der Expo zur Staffage. Einen Eigenwert oder ein Eigenleben hat sie nicht. Ihre komplizierte Funktionsweise spielt keine Rolle. Das Zusammenspiel vieler Organismen, von dem der Mensch oft nur einen Bruchteil kennt und das ganz unabhängig von diesem Wissen existiert, interessiert nicht. Die Ausstellungsmacher wollen vor allem eines: Gefühle erzeugen.
Im finnischen Expo-Pavillon begegnet der Besucher daher nicht nur seiner Natursehnsucht vor der Tapetenlandschaft. Im Innenhof wachsen sogar echte Birken. Die erst vor ein paar Wochen hierher verfrachteten Bäume sehen plötzlich aus wie die pralle Natur – eine Oase der Seligkeit in einer Umgebung, in der quaderförmige Messehallen, Asphaltflächen und ausgerollte Rasenmatten das Bild bestimmen. Damit die positiven Empfindungen durch nichts gestört werden, geleiten Holzbrücken die Besucher meterhoch über dem Boden durch das frische Grün: Auch wer Stöckelschuhe trägt, riskiert nicht, im Matsch zu versinken. Im kindgerecht gestalteten Vorraum reagiert ein animiertes Rentier auf die Lockversuche der Jungen und Mädchen. Sie müssen nur mit dem Arm wedeln, und schon reckt das putzige Tierchen neugierig seinen Kopf über die Balustrade. Geduldiges Warten und das Risiko von Enttäuschung sind ausgeschlossen. Natur wird zur berechenbaren Größe, zum Objekt, das sich dem knappen Zeitbudget der Besuchermassen anzupassen hat. Als schöne Kulisse wird sie eingesetzt für ein kurzes Durchatmen, als Ahnung von Erholung.
Doch die Weltausstellung bedient auch den durch Naturgewalten ausgelösten Nervenkitzel. Im Pavillon der Grünen-Punkt-Gesellschaft DSD können sich die Besucher beim Anblick eines sechs Minuten lang wirbelnden Tornados gruseln. Schaudern verursacht auch eine Gletscherspalte im Fußboden, die mit viel Energieaufwand vor sich hin friert. Ihre emotionale Kraft gewinnt sie vor allem durch die nebenstehenden Fotos einer vom Eis konservierten Leiche.
Und noch eine dritte Variante von Bedürfnissen, die die Natur stillen soll, wird auf der Expo angesprochen. Seit fast 200 Jahren sucht der Mensch das Echte, von der Zivilisation Unberührte und Unzerstörte in der Ferne – in der Hoffnung, dort etwas Überwältigendes zu finden. Zugleich will er sich abgrenzen vom angeblich Banalen, das jedem in der eigenen Umgebung zugänglich ist.
Dieser Wunsch nach Exklusivität wird auf der Expo paradoxerweise als Massenerlebnis bedient. Die Länderpavillons können diese Sehnsüchte im Zeitalter des TUI-Tourismus und ständig zunehmenden Luftfrachtverkehrs allerdings kaum noch bedienen: Der Anblick einer Strelitzie ist heute so alltäglich wie der einer Taubnessel. Die Mobilitätsausstellung hält sich deshalb auch kaum mit irdischen Zuständen auf, sondern beamt die Menschen gleich mehrfach in den Orbit. Die blaue Erde ersetzt den romantischen Sonnenuntergang. Und die Geschwindigkeiten, mit der die Besucher in den dreidimensionalen Bilderwelten unterwegs sind, degradiert die Concorde zur lahmen Ente.
Trotz allem trieb Expo-Chefin Birgit Breuel in den vergangenen Tagen vor allem eine Sorge um – die reale Natur betreffend: das Wetter am Eröffnungstag. ANNETTE JENSEN
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