: Mit Kornflakes in den Kampf
Szenen einer Kleinstadt: Die Palästinenser bauen an ihrem künftigen Parlament und die israelischen Siedler werkeln am Fortschritt Zions
aus Abu Dis CHRISTOPH SCHULT
So sieht also der „Fortschritt Zions“ aus. Zumindest soll die Siedlung so heißen, für die der israelische Parlamentsabgeordnete Michael Kleiner einen Spaten in die felsige Erde stößt. „Hier beginnt der Kampf um Jerusalem“, ruft er. Zusammen mit vier Kollegen und zwei Dutzend jüdischen Religionsstudenten ist er auf den Hügel am Rande Jerusalems gekommen, um sich als Bauarbeiter zu betätigen.
Zwar gehört der Berghang am Rande des arabischen Ortes Abu Dis den Juden, doch die Regierung von Premierminister Ehud Barak hatte den Bau der Siedlung nicht genehmigt. Was Barak sagt, interessiert die Siedler nicht, Gott hat sie geschickt, mit Stacheldraht, Maschinenpistolen und Kornflakes. „Solange wir hier bleiben, kann uns keiner das Land wegnehmen“, sagt der Abgeordnete Kleiner und setzt ein Olivenbäumchen in das Erdloch. Nach einer Nacht ist alles vorbei. Gestern im Morgengrauen evakuierte die israelische Armee den Berghang zwischen Jerusalem und Abu Dis. Eigentlich, so hatte die Knesset vor zwei Wochen entschieden, sollte Abu Dis schon längst palästinensisches Autonomiegebiet werden. Aber wegen der Unruhen in den Palästinensergebieten zögert Premierminister Barak die Übergabe hinaus.
Kulturzentrum oder Parlament?
Keine zweihundert Meter von dem Grundstück der Siedler entfernt sitzt der Ingenieur Bassem Mustafa in einem Container, liest Zeitung und zieht an seiner Wasserpfeife. Egal ob mit oder ohne Siedler, er baut weiter „am größten Gebäude der Westbank“, wie er stolz sagt.
Sieben Stockwerke hoch ist der Rohbau am Stadtrand von Abu Dis, den alle nur „das Parlament“ nennen. Ein Koloss aus Sandstein, strahlend weiß im Licht der Sonne. Palästinenserchef Arafat hat ihn lange als „Kulturzentrum“ deklariert. Ein Parlament in Abu Dis, so fürchtete er wohl, könne den Eindruck hinterlassen, er würde auf Jerusalem als Hauptstadt verzichten.
„Natürlich ist das hier ein Parlament“, sagt Bassem Mustafa, der Bauingenieur, und deutet in den großen Saal mit der Bühne am Kopfende. Der Boden ist übersät mit Zementklumpen, ein großes Holzgerüst ragt in die Kuppel hinein. „Sie wird mit schwarzem Glas ausgekleidet, die Rückwand der Bühne mit Marmor.“ Auf der anderen Seite der Halle ragt eine Galerie in den Saal hinein, „für die Zuschauer, die beobachten wollen, wie unsere Politiker debattieren“, erklärt Mustafa, aber es klingt nicht so, als könne er sich vorstellen, dass hier das Palästinenser-Parlament vielleicht schon im nächsten Jahr zusammentritt.
Denn noch ist Abu Dis nur „B-Zone“: Die Palästinenser kümmern sich um Schulen und das Telefonnetz, die Israelis um die Sicherheit. Nur wenn sich eine Gruppe palästinensischer Jugendlicher mit Steinen bewaffnet, stoßen die Soldaten mit Jeeps in die Stadt vor.
Haus mit politischer Aussicht
„Wenn die Israelis Abu Dis an uns übergeben, werden wir die Arbeit am Parlament beschleunigen“, sagt Mustafa. Bis dahin frickeln die Arbeiter hier und da herum, mehr als eine Hand voll sind nie zu sehen.
Ob sie sich freuen, dass sie das Parlament bauen? „Ja“, sagt einer, „weil ich etwas für das palästinensische Volk tue.“ Ein anderer, er trägt den Bart der Islamisten, will nicht reden. Nur eine kleine Handbewegung, Geld, wegen des Geldes ist er hier. Schnell fügt der erste hinzu: „Unsere Hauptstadt ist nicht Abu Dis, unsere Hauptstadt ist Jerusalem, Al-Quds, die Heilige.“ Der Bärtige nickt.
Wer Israelis in Tel Aviv fragt, erhält dieselbe Antwort auf Hebräisch: Jerushalayim, die ewige, unteilbare Hauptstadt des Judenstaats. Bisher gibt es nur einen Vorschlag, der die scheinbar unversöhnlichen Ansprüche zu überbrücken versucht. Danach würde das Ostjerusalemer Stadtgebiet um Abu Dis und andere arabische Vororte erweitert. Das so entstandene neue Ostjerusalem würde Hauptstadt des Palästinenserstaats mit einem Korridor zu den heiligen islamischen Städten. Der jetzige Justizminister Jossi Beilin hat den Plan ausgearbeitet, zusammen mit dem stellvertretenden PLO-Chef Abu Mazen.
Das Parlament in Abu Dis wirkt wie zugeschnitten auf diese Lösung: Es ist genauso weit entfernt vom Felsendom wie die Knesset von der Klagemauer: exakt 2,3 Kilometer. Von einem Logenraum im siebten Stock des Gebäudes bietet sich eine großartige Aussicht auf die goldene Kuppel. „Das ist keine großartige Aussicht“, sagt Mustafa, „sondern eine politische Aussicht.“ Ob es stimmt, was sich die Leute in Abu Dis erzählen? Hier, im vornehmsten Raum, soll Arafat residieren? Mustafa lacht. „Das ist doch ein Witz. In unseren Bauplänen steht nirgendwo der Name Arafat.“
Auf der großen Karte im Flur der Stadtverwaltung von Abu Dis ist noch nicht einmal das Parlament eingezeichnet, obwohl sonst jedes Haus aufgeführt ist. „Es ist nur ein Gebäude“, wehrt Saleh Abu Hilal, der Bürgermeister, ab. Er zögert. „Und wenn es ein Parlament wäre, was ist falsch daran?“ Als ob er sich der Antwort selbst nicht sicher ist, schiebt er hinterher: „Unsere Hauptstadt ist Ostjerusalem, nicht Abu Dis.“ Erst wenn Israel Ostjerusalem abgäbe, würde aus dem Gebäude ein Parlament. „Kein Ostjerusalem, kein Parlament“. „No East-Jerusalem, no parliament.“
Der Fünfundsechzigjährige mit der Hornbrille und dem weißen Stoppelbart zieht eine alte Karte hervor. Unter osmanischer, britischer und jordanischer Herrschaft sei Abu Dis stets Teil des Verwaltungsbezirks von Jerusalem gewesen. Erst die Israelis änderten das, als sie 1967 die Westbank besetzten und Abu Dis der viel weiter entfernten Stadt Bethlehem zuordneten. „Barak würde ja am liebsten eine Mauer zwischen Jerusalem und den arabischen Vororten ziehen“, glaubt Abu Hilal zu wissen. „Aber wir werden niemals zulassen, dass zwischen Ostjerusalem und Abu Dis eine Grenze gezogen wird.“
Die gibt es jedoch schon. Nachdem die Israelis 1967 das Westjordanland besetzten, schnitten sie den größten Teil von Abu Dis vom Jerusalemer Stadtgebiet ab. Eine unsichtbare Grenze, die die Bewohner von Abu Dis in zwei Klassen teilt.
Ibrahim Ayyad hat Glück gehabt. Der Einundzwanzigjährige lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester auf der Jerusalemer Seite von Abu Dis. Sein weißer Peugeot trägt das gelbe, israelische Nummernschild und in seinem Portmonee steckt die begehrte blaue Identitätskarte, mit der er sich frei in Israel bewegen kann. Ohne sie könnte er nicht jeden Morgen um sechs Uhr zu seiner Arbeit in ein Jerusalemer Reisebüro fahren.
Mancher in Abu Dis ist verunsichert
Ibrahim ist verunsichert wegen der bevorstehenden Rückgabe von Abu Dis. Die Israelis könnten auf die Idee kommen, den Streifen mit seinem Elternhaus Abu Dis zuzuschlagen. Erste Anzeichen gibt es schon. Einem Nachbarn hätte die israelische Wasserbehörde gestern einen neuen Wasseranschluss verweigert. „Wenn das bedeutet, dass ich meine blaue ID-Karte verliere, dann ziehe ich um nach Tel Aviv, egal was die Leute hier sagen“, sagt Ibrahim.
Doch noch patroulliert hier kein palästinensischer Polizist. Und wenn es nach dem Willen der israelischen Opposition geht, dann bleibt das auch so. Dabei wollte bis vor kurzem selbst Likudchef Ariel Sharon den Ort an die Palästinenser zurückgeben. Aber nein, die israelische Sicherheit ist gefährdet, schreit der Exgeneral. Abu Dis gehöre zum biblischen Eretz Israel, schreien die Orthodoxen. Die israelische Souveränität über Jerusalem würde verletzt, schreit Bürgermeister Ehud Olmert.
Mit der neuen Siedlung will Olmert jetzt nach bewährter Manier Fakten schaffen: 200 Wohneinheiten, die die Kontinuität jüdischen Lands bis zur Klagemauer sichern sollen. Der Bürgermeister braucht dazu nicht einmal Palästinenser zu enteignen, denn der Berghang gehört Juden. Die Alten in Abu Dis erinnern sich noch, wie Juden in den Dreißiger- und Vierzigerjahren überall im Ort Grundstücke gekauft hätten. Insgesamt sind es rund 30.000 Quadratmeter, also über fünf Prozent von Abu Dis, eine Fläche von 60 Fußballfeldern. Ein Sechstel davon gehört allein dem Jewish National Fund, einer staatlichen Stiftung. „Die Stiftung verkauft kein Land, das dem jüdischen Volk gehört“, sagt die Sprecherin, selbst wenn Abu Dis an die Palästinenser übergeben wird.
Die Leute in Abu Dis zweifeln nicht an der Rechtmäßigkeit jüdischen Landbesitzes. Die Juden seien willkommen in Abu Dis zu leben, sagen die meisten – aber unter einer palästinensischen Regierung in einem palästinensischen Staat.
Das jedoch wollen die meisten gar nicht. Einige haben sogar Palästinensern ihr Land zum Verkauf angeboten – auch einen Teil des Berghangs, an dem Olmert die Siedlung bauen will.
Dort, wo der Hang ausläuft, besitzt Hashem Elayan ein Stück Land. Der Englischlehrer floh 1967 nach Jordanien, jetzt ist er wieder zurück, elegant gekleidet, mit einem rotweißen Palästinensertuch. „Ich werde dort ein Haus bauen“, sagt der Dreiundsechzigjährige und deutet auf die spärlich bewachsenen Felsen. „Von da aus kann ich den Felsendom sehen und das israelische Parlament.“
Er checkt seine Dokumente. Ja, das ist das Stück Land, registriert in Bethlehem. Und was macht er, wenn die Siedler kommen und seine Nachbarn werden? „Die kommen nicht“, sagt Elayan und lässt die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten, „die werden doch nicht eingequetscht zwischen Arabern leben.“ Zufrieden schaut er auf sein Land und atmet die laue Abendluft ein. Für Elayan hat der Frieden bereits begonnen. Und dann sagt er noch: „Das wird einmal eine bedeutende Stadt.“
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