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Das System Milošević

Er führte vier Kriege und verlor sie. Er schüttelte den Mächtigen der Welt die Hand und haute sie übers Ohr. Er ist ein Paria. Sein Regime hat Bestand

von MILOS VASIĆ

Persönlich bin ich nur einmal mit ihm zusammengetroffen, Mitte der Siebzigerjahre; damals war er Finanzmanager einer Belgrader Fabrik, einer Zuchtanstalt für viel versprechenden Nachwuchs der kommunistischen Nomenklatura. Gott, war er unauffällig! Ich hätte ihn nicht in Erinnerung behalten, wäre da nicht seine Arroganz gewesen und sein schlaffer, fischiger Händedruck. Noch immer zeigt er die gleiche Haltung wie damals: die Beine gespreizt, als seien seine Eier aus Glas, das Kinn in die Höhe gereckt – und kein einziges Wort von Bedeutung.

Aber dieser unauffällige, mürrische und unhöfliche Nomenklatura-Niemand wurde weltbekannt: das erste Staatsoberhaupt, das jemals zu Lebzeiten wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde. Von den Großmächten als „Friedens- und Stabilitätsfaktor auf dem Balkan“ gepriesen, tauschte er Händedrucke mit den meisten Mächtigen dieser Welt, bevor er sie wieder übers Ohr haute; der Mann, der vier Kriege begann und verlor; und immer noch liefert er Schlagzeilen als Herrscher über ein armes und verwüstetes Land. Die Welt kann mit ihm nicht mehr leben; seine Untertanen können ihn nicht mehr ausstehen; aber niemand scheint sich seiner entledigen zu können. Er ist ein Paria dieser Welt: nur Saddam Hussein und die Nordkoreaner sprechen noch mit ihm; China unterstützt ihn widerwillig (aus eigennützigen Gründen); die Russen würden ihn nicht mit der Feuerzange anfassen. Und er sitzt mitten auf dem Balkan und rühmt sich, dass Myanmar (Birma) auf seiner Seite sei, dass brüderliche freiheitsliebende Parteien der extremen Linken und sogar noch extremeren Rechten (darunter auch die Milizen aus Montana und die italienische Manifesto-Gruppe) seinem Regime in seinem heroischen Kampf gegen die „Globalisierung“ zur Seite stehen.

Die extreme Linke sieht Milošević im Recht, weil die Nato gegen ihn ist; die extreme Rechte mag ihn, weil er ohne zu zögern Menschen umgebracht hat (besonders bosnische und Kosovo-Muslime) und weil er als erster Führer in Europa seit 1945 das ethnische Prinzip gegenüber dem der Staatszugehörigkeit rehabilitiert hat – ein Angriff auf die Atlantik-Charta, die UN-Charta und die Grundwerte der modernen Demokratie, wie sie durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges definiert waren.

So wurden Serbien und Milošević für den Westen zu einem innenpolitischen Thema; das gleiche geschah mit Bosnien im Krieg 1992 – 1995. Für Milošević war das natürlich von Nutzen: wenn er sich bei etwas auszeichnet, dann beim Export seiner Probleme ins Ausland. Er hat ein bemerkenswertes Gespür für die Schwachstellen sowohl seiner Gegner wie seiner Opfer; er kennt nur eine einzige Taktik: Teile und Unterwandere. Milošević besitzt keine Ideologie, keine Überzeugung und – ganz folgerichtig – auch keinerlei Strategie. Er ist ein höchst erfolgreicher Verlierer. Und er ficht – höchst ironisch – den letzten Kampf des Kalten Krieges auf dem europäischen Kriegsschauplatz aus. In seinem Verständnis führt er das letzte Gefecht des realen Sozialismus. Nicht dass Milošević auch nur die geringste Chance hätte zu siegen; natürlich ist er zum Untergang verurteilt. Die Frage lautet lediglich, wie viele Opfer er noch mit sich ziehen wird. Er hat bereits eine monumentale Verachtung für Menschenleben an den Tag gelegt; gleichgültig, ob bei seinen Untertanen oder seinen Opfern. Milošević hat sich ausmanövriert; für ihn gibt es nur noch den Tod oder Sieg, egal um welchen Preis. Und Sieg bedeutet in seinem Falle das bloße Überleben.

Ehepaar aus der Provinz

Wer ist dieser Mann?

Slobodan Milošević wurde 1941 in Pozarevac geboren, in Zentralserbien. Sein Vater, ein ehemaliger orthodoxer Priester, beging früh Selbstmord; ebenso später seine Mutter und ein Onkel (mütterlicherseits). Sein älterer Bruder Borislav (derzeit jugoslawischer Botschafter in Moskau) machte Karriere in der Sozialistischen Jugend und trat schon früh in den Auswärtigen Dienst ein. Der junge Slobodan war ein guter Schüler, ein Streber, politisch korrekt – im kommunistischen Kontext; so sehr, dass seine Altersgenossen ihn als entsetzlichen Langweiler in Erinnerung haben. In der Oberschule von Pozarevac begegnete er seiner ersten und einzigen Liebe, Mira Marković. Das kleine, dunkle, pummelige und unauffällig schüchterne Mädchen hatte ebenfalls einen traumatischen Familienhintergrund: ihre Mutter, eine kommunistische Untergrundagentin in Belgrad, war von der Gestapo verhaftet und gefoltert worden und soll angeblich ihr Netz verraten haben; später wurde sie dennoch getötet. Ihr Vater, ein bekannter Partisanenführer, war voller Scham und vernachlässigte seine Tochter.

Slobodan und Mira entwickelten politisches Gespür und Ehrgeiz. Eine gottverlassene Kleinstadt bildete zur Zeit des Kommunismus ein gutes Übungsfeld, um die damals erforderlichen politischen Fertigkeiten herauszubilden: Intrige, Manipulation, Denunziation, Lippendienste gegenüber der Parteilinie. Diese Fertigkeiten versprachen in Belgrad Erfolg wie in Pozarevac.

An der Uni in Belgrad machte er seinen Abschluss in Jura, sie in Soziologie. Slobodan war Sekretär einer Parteiabteilung, sie eine durchschnittliche Studentin. Investitionen in eine Parteikarriere bildeten damals die solideste Anlage, deshalb entschied sich Slobodan dafür. Die Partei machte ihn zu einem kleinen Industriemanager, dann zu einem Bankmanager, dann zu einem Bankenvertreter in New York.

Nach ihren Studienabschlüssen heirateten sie, wie es sich gehörte, und bekamen eine Tochter, Maria; später auch einen Sohn, Marko. In aller Ruhe arbeitete er an seiner Parteikarriere; sie verschaffte sich mit einiger Mühe eine Anstellung als Soziologin an der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad.

1984 war Slobodan Milošević – nicht dank seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten oder Erfolge, sondern durch schiere Ausdauer – so weit gereift, dass er zum Oberhaupt der Parteiorganisation der Stadt Belgrad aufsteigen konnte. Sein erster Zug führte auch zu seiner ersten politischen Niederlage: In Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit organisierte Milošević einen Prozess gegen eine Gruppe Belgrader Dissidenten, die sich der Unterstützung der polnischen Solidarność schuldig gemacht hatten. Ein Richter des Belgrader Bezirksgerichts jedoch zeigte genug Mut und Integrität, um 26 Angeklagte für unschuldig zu erklären. Der Richter hatte erkannt, dass der Kommunismus bröckelte; Milošević nicht.

Tausch der Ideologien

Milošević’ nächste Chance wurde ihm im April 1987 buchstäblich aufgezwungen, als er in den Kosovo kam und – zum ersten Mal in seinem Leben – einer aufgebrachten Menge gegenüberstand. Wir alle wissen heute, dass die wütende Menge der Serben in Kosovo polje um seinetwillen zusammengerufen worden war; mancher wusste es schon damals. An diesem Abend, als Milošević aus einem Fenster herunterrief: „Die Zeit der Erniedrigungen ist vorüber“, wurde die Büchse der Pandora des Nationalismus weit geöffnet. Er hatte wirkliche Angst; niemals zuvor hatte er vor einer wütenden Menge gestanden; die einzigen Massen, zu denen er gesprochen hatte, waren die zahmen und durchorganisierten Vollversammlungen der Kommunistischen Partei. Im Kosovo 1987 erkannte er einen Ausweg, einen Notausstieg für eine bröckelnde totalitäre Ideologie und ihre Machtstruktur: den Nationalismus.

Im September 1987 wurde er mit Hilfe einer Palastintrige Vorsitzender der Kommunistischen Partei Serbiens. Auch das war organisiert: Seine Nomenklatura sorgte für gefälschte Unterstützungstelegramme, die während der dreitägigen Plenarsitzung verlesen wurden; er setzte die besten Demagogen ein; er übernahm die wichtigsten Massenmedien, die Intellektuellen priesen ihn und schmeichelten ihm als dem Beschützer aller Serben.

Als guter Marxist, der er war, hätte Slobodan Milošević die Macht der Ideologie niemals unterschätzt. Fünfundvierzig Jahre lang hatte die jugoslawische Kommunistische Partei ihr politisches Monopol errichtet und verfeinert, ihre Programme und Strategien und – vor allem! – ihren Machtapparat: die Parteinomenklatura, die Verwaltung, Polizei, Armee, die Intellektuellen, Künstler, Medien. Alles unter der sicheren Voraussetzung, dass der Kommunismus in einer bipolaren Welt Bestand haben werde. Sobald jedem klar wurde, dass das kommunistische System bröckelte, dass der „sowjetische Ritter in der eigenen Rüstung starb“ (John Le Carré), dass die Wirtschaft des Warschauer Paktes die Menschen nicht mehr ernähren konnte und jetzt alles vorbei war, beschloss Milošević, zu kämpfen, und nicht wie seine kommunistischen Mitherrscher in Russland, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, der DDR, Bulgarien und anderswo zu kapitulieren.

Um Gottes willen: Nur nicht der zutiefst anrüchigen Versuchung der Sozialdemokratie anheim fallen! Wie andere vor ihm entschloss er sich, lieber mit den Faschisten zu paktieren als mit den Sozialdemokraten. Nationalistische Intellektuelle, selbst jahrzehntelang loyale Diener des Kommunismus, konnten einen solchen Wechsel der Flagge kaum erwarten. Das galt auch für die verschreckten jugoslawischen Generäle. Die Intellektuellen durchschauten die Ereignisse in der UdSSR viel besser als die Generäle, die noch an den Kommunismus glaubten. Beide jedoch sahen ihren Hauptfeind in der westlichen Demokratie.

Seltsame Weggefährten

Der größte Teil der Nomenklatura blieb auf Milošević’ Seite, und ehemalige Feinde, die nationalistische Intelligenz, schlossen sich bereitwillig an. Zwar musste er ein Mehrparteiensystem und eine gewisse Pressefreiheit zugestehen, aber die meisten Parteien hatten Programme, die sich an seinem ausrichteten; deshalb hielt sich der Schaden in Grenzen. Milošević und seine Partei, die sich jetzt sozialistisch nannte, siegten 1990 bei den Wahlen.

Anscheinend schloss er einen Pakt mit dem neuen kroatischen Präsidenten, Dr. Franjo Tudjman. Irgendwann wird bekannt werden, was wirklich geschah, aber wahrscheinlich sah der Kuhhandel so aus: Täuschen wir zur Ablenkung einen Krieg zwischen Serbien und Kroatien vor und teilen Bosnien unter uns auf, mit ethnischen und religiösen Begründungen. Die Kriege in Kroatien und Bosnien sind inzwischen Geschichte; ihre wirklichen Gründe müssen noch offen gelegt werden. Aber ein entscheidender Augenblick sticht hervor: der gescheiterte Staatsstreich in Moskau am 19. August 1991. Bis zu jenem Tage klammerten sich Milošević und seine Generäle an die Hoffnung einer kommunistischen Restauration in der UdSSR; Milošević und seine Anhänger begrüßten den Coup. Als der Putsch jämmerlich scheiterte, wurden Jugoslawiens Generäle von Mütterchen Russland im Stich gelassen; so wurde Milošević zu ihrer letzten Option. Der begann die Kriege in Slowenien und Kroatien in voller Kenntnis, dass sie verloren gehen würden; er verkürzte seine Fronten.

Der Krieg kehrt heim

Von 1991 bis 1995 gelang es Milošević, drei Kriege zu verlieren und diese Niederlagen zu überstehen. Nach jeder Niederlage investierte er mehr Energie in die Aufgabe, Serbien selbst zu unterwandern und zu korrumpieren. 1993 bluteten er und seine Kumpel das Land mit Hilfe einer Überinflation aus. 1994 rief seine Frau Mira Marković eine ganz besondere politische Partei ins Leben, die Jugoslawische Vereinigte Linke, JUL. Die JUL erhielt bei Wahlen nie mehr als 5 Prozent, aber das brauchte Frau Marković nicht zu stören. Sie brachte ihre Leute überall dort in Position, wo Geld und echte Macht zu finden waren: in den profitabelsten Firmen, in Verwaltung, Polizei, Armee, Regierung. Die JUL ähnelt eher dem Opus Dei in Francos Spanien als einer politischen Partei, am stärksten einer berühmten alten regierungsunabhängigen Organisation, die ihre Basis in Palermo auf Sizilien hat.

Die dritte Säule der politischen Macht, die rechtsextreme Serbische Radikale Partei des Dr. Šešelj, ist einfach nur glücklich. Diese dreiteilige Machtbasis von Milošević nennt sich die rot-schwarze Koalition.

1998 kam es zur Krise im Kosovo. Alle hielten das irgendwie für ein Omen: im Kosovo hatte Milošević’ Aufstieg begonnen, dort würde er auch enden. Dazu kam es nicht; das wäre zu sauber und zu philosophisch gewesen. Stattdessen zog Milošević Serbien in den Krieg und opferte das Land den Bomben der Nato.

Die Nato spielte Milošević direkt in die Hände und bewies einmal mehr, dass die Rolle der Dummheit in der Geschichte endlich eine ernsthafte Untersuchung verdient. Er konnte es kaum erwarten: Die Bombardierung Serbiens beschleunigte sein Vorhaben, ein totalitäres Regime zu errichten. Die Angriffe der Nato waren eine hervorragend durchgeführte, von Grund auf falsche Operation – jedenfalls vom Standpunkt der erklärten Ziele aus.

Sie lösten den grausamen Versuch der „ethnischen Säuberung“ im Kosovo aus, den Milošević’ Leute schon früh genug öffentlich in Aussicht gestellt hatten; sie verwüsteten das Kosovo und Serbien gleichermaßen; sie stärkten Milošević; sie haben das Wenige zugrunde gerichtet, was an öffentlichem Bewusstsein, öffentlicher Meinung und freier Presse in Serbien noch existierte. Man stelle nicht die Frage, was man stattdessen hätte tun sollen; das hat jetzt keinerlei Bedeutung mehr.

Serbisches Selbstmitleid

Milošević hat das seltene Talent, alles zu beschmutzen, was er anfasst, jeden zu kompromittieren. Er machte Serbien zum kollektiven Schuldigen für all seine Taten. Ein weiteres seiner Talente liegt in seiner Personalpolitik: Milošević beurteilt und wählt Leute nach ihren Lastern, nicht nach ihren Tugenden. Warum soll er sich mit unabhängig denkenden, fähigen und integren Menschen herumschlagen, wenn ein dummes korruptes Arschloch die gleiche Aufgabe mit äußerster Loyalität erfüllen wird? Es gibt ein altes griechisches Wort dafür: kakistokrathia, die Herrschaft der Schlimmsten. Serbien wird derzeit von einer zutiefst korrupten und verantwortungslosen Kriminellenschicht regiert. Gestohlen werden kann alles, und gestohlen wird gewöhnlich auch alles, ohne jeden Vorwand; getötet werden kann jeder, auch ein Verteidigungs- oder ein Polizeiminister.

Und getötet werden sie, straflos; keine Absurdität oder Lüge ist so krass, dass sie nicht offiziell ausgesprochen werden könnte, und ausgesprochen werden sie ständig; das kümmert niemand mehr. Selbst die spektakulärsten Morde wie der an Arkan, dem angeklagten Kriegsverbrecher, werden von der Öffentlichkeit inzwischen stoisch mit einem Schulterzucken abgetan. Politische Morde gelten als natürlicher Tod, wie Krebs oder Herzinfarkt.

Wohin hat uns all das nun geführt? Milošević hat das Kosovo – die ausgebrannte Hülle, die niemals wieder Teil eines vorstellbaren serbischen Staates sein kann – der serbischen Opposition, dem serbischen Volk vorgeworfen, damit sie sich daran die Zähne ausbeißen; je länger, desto besser. Damit sind sie ganz zufrieden: Auch das Kosovo liefert eine hübsche Ausrede, um in Selbstmitleid zu schwelgen, in Selbstgerechtigkeit und Nachsicht mit sich selbst, den beliebtesten serbischen Sünden. Während sie alle über das Kosovo jammern und schluchzen, konsolidiert er seine Reihen; die Rate der politischen Morde in den letzten vier Monaten erreichte den Jahresdurchschnitt der letzten acht Jahre.

Systematisch schürt er die Krise in Montenegro, spielt mit den Nerven der Montenegriner und versucht, einen ausreichend großen Anlass zu provozieren. Denn die montenegrinische Situation sieht so aus, dass zum Untergang verurteilt ist, wer das erste Blut vergießt.

Inzwischen zeigen sich an der Oberfläche Anzeichen von Panik und Verzweiflung; das Regime wird immer bedrohlicher; die politische Gewalt nimmt zu; die im Normalfall träge Provinz gerät in Unruhe, was ein böses Zeichen ist; der Druck auf die unabhängigen Medien wächst.

Das Schicksal von Nicolae und Elena Ceaușescu drängt sich als unausweichliche Assoziation auf; mehr noch das Schicksal des serbischen Königs Alexander und seiner Königin Draga, die 1903 von aufständischen Offizieren hingeschlachtet wurden. Trotz eines offensichtlichen Realitätsverlusts bei dem Ehepaar Milošević, der sie den unglücklichen Vorläufern so ähnlich macht, wird sich die Geschichte nicht so bequem wiederholen.

Zunächst einmal ist Milošević’ Staatssicherheitsdienst überall; er hat die Opposition, die jugoslawische Armee, die Verwaltung erfolgreich unterwandert und hält Finanzen und Unterwelt unter strenger Kontrolle. Vor einem solchen Hintergrund ist eine Verschwörung kaum möglich, insbesondere nicht beim Militär.

Wie stürzt Milošević?

Wer wird Milošević dann stürzen? Demokratische Wahlen? Vielleicht. Vorausgesetzt, die serbische Opposition bringt genug moralische Kraft und Bürgersinn auf, um ihre unglaubliche Eitelkeit im Zaum zu halten. Selbst dann wird man entschieden nicht damit rechnen können, dass Milošević die Macht widerstandslos preisgibt; der Verlust der Macht würde Scheveningen bedeuten, den Sitz des UN-Tribunals von den Haag.

Also liefe es auf Bürgerkrieg hinaus, kurz und blutig, mit einem ziemlich sicheren melancholischen Ende: Milošević erschießt sich selbst in einem unterirdischen Bunker, kurz bevor die Aufständischen die Stahltüren aufsprengen . . .

Ein Staatsstreich von innen? Schon wahrscheinlicher. Milošević und seine Frau sind für ihre Partner zu einer Belastung geworden; sie sind schlecht fürs Geschäft. Es war sehr angenehm, während der Sanktionen mit ihnen zusammenzuarbeiten, als die privilegierte Elite die meisten Ersparnisse der serbischen Bürger in harter Währung mittels Schmuggeloperationen aus dem Lande schaffen durfte. Das Geld wurde in Steueroasen gebracht, gewaschen und für weitere Schmuggeloperationen verwendet. Sämtliche lukrativen Märkte wurden sorgfältig monopolisiert und unter den Freunden und Helfern der Familie aufgeteilt.

Aber Serbien liegt auf den Knien, von den Straßen lässt sich kaum noch Geld kratzen; die langfristige Wirkung der Sanktionen ist schmerzhaft, noch acht Jahre danach. Die Geschäftspartner der Milošević-Familie werden unsicher; seine offensichtlich selbstmörderische Politik hat keinerlei Zukunft; irgendetwas muss passieren. Zunächst wird das Geld sprechen; Gewehre später. Es gibt kleine Zeichen, Tonfälle, kleines Wellengekräusel, wahrnehmbar nur für sorgfältige lokale Analytiker, man redet miteinander . . . Man redet von den zu erwartenden Profiten, die sich während des Wiederaufbaus, der Privatisierung und der Einbeziehung Serbiens in die europäische Integration erzielen lassen könnten. Wenn sich Serbien der Familie und ihrer Politik entledigt hat, wird es in Europa und überall sonst wieder willkommen sein.

Das mögliche Drehbuch wäre eine Palastrevolution, durchgeführt von den Reichen und Starken, den engsten Vertrauten der Familie, mit bewaffneter Unterstützung der Polizeiführung, der einzigen wirklich starken bewaffneten Kraft in Serbien. Das Ergebnis für Milošević wäre das gleiche: er erschösse sich mit ebenjener goldverzierten CZ-99-Automatik, die ihm die Rüstungsarbeiter von Crvena Zastava verehrt haben – die gleichen, die jetzt seit zwei Jahren nicht mehr ihren ehrlich verdienten Lohn erhalten haben.

Und was dann? Sind wir dann alle glücklicher? Schließlich haben die Serben selbst Milošević mehrere Male bei demokratischen Wahlen gewählt. Dreizehn Jahre sind verloren, vergeudet, ganz zu schweigen von den Toten, den Verkrüppelten, Vertriebenen und den Zerstörungen. Wenn überhaupt ein Trost darin liegen soll, dann dieser: Jener dreizehn Jahre sollte man sich erinnern als einer Lehre nicht nur für die Serben, sondern für jede andere Nation, die der Versuchung des Chauvinismus, des Selbstmitleids und der Selbstgerechtigkeit ausgesetzt ist.

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