: Der Weg ist das Wunder
Lohnende Stapazen: Wandern auf Gomera mit Blick auf den Atlantik und die Wand sicher im Tritt
von MAIKE RADEMAKER
Dass wir am zweiten Tag in die „Wand“ müssen, hatte Wanderführer Josh Geertz uns gleich am ersten Tag gesagt. Die Wanderneulinge unter uns hatten damit erst mal Gesprächsstoff für die nächsten Stunden. Das war wahrscheinlich seine Absicht, wir waren beschäftigt, er hatte seine Ruhe und musste uns nicht von den anderen „Wänden“ erzählen, die uns auch noch bevorstanden. Zum Beispiel die Wand beim Bananenort Agulo, die wir am letzten Tag serviert bekamen.
Ob wir mit 1,5 Liter genug Wasser mit hätten, fragten wir uns bei der ersten Wanderung. Ob die Schuhe gut genug seien. Ob wir da wirklich rauf müssten. Was wir machen sollten, wenn wir das nicht schafften. Ob das denn echt sein müsse? Dabei hätte ein vorheriger Blick auf die Geografie unseres Urlaubsziels uns klarmachen müssen, dass es immer bergauf und bergab gehen würde und nie eben, jedenfalls fast nie: Gomera, die wilde der Kanarischen Inseln, ist ein von 50 tiefen Schluchten, barrancos, durchfurchter Kegel. Der höchste Punkt mitten im Nationalpark Garajonay ist stattliche 1.487 Meter hoch. Aber wer schaut schon vorher in Reisehandbücher.
Gomera. Man fährt eigentlich nicht mehr hin, seit aus dem Aussteigerglück der 70er-Jahre eine Art Costa Brava für Alternative geworden ist. Schwimmen kann man fast nirgendwo, weil die Strömung zu heftig ist, im Sand liegen kann man auch nicht, weil es kaum Sandstrände gibt und die Touristen wegen der schmerzhaften Kiesel lieber auf allen vieren aus dem Wasser krabbeln. Und dann begegnet man dauernd alternativen Deutschen, was die Alternativen ja hassen wie die Pest. Außerdem sieht Gomera vom Meer aus wie ein brauner Felsen mit Kakteen, zum Wandern so verlockend wie das Nagelbrett eines Fakirs.
Dona Alciria in der einzigen Bar von Imada, einem kleinen Ort mitten in den Bergen zwischen Playa de Santiago und Chipude, kennt das Leiden ihrer Wanderer und das Mittel dagegen: Saft aus eisgekühlten Orangen, Eis und barraquito, den kleinen Kaffee mit Zimt und Zitronenschale, eine Gomera-typische Köstlichkeit. Immerhin haben die, die es bis zu ihr geschafft haben, schon ein paar hundert Meter hinter sich. Sie sind jetzt schon berauscht: von einem grandiosen Ausblick auf die Schlucht, die sich hinter ihnen auf den Atlantik öffnet, von den Dattelpalmen, den zerfallenden Terrassen, den kleinen Feldern und Gehöften mit weißen Häusern. Sie haben erlebt, wie die Felder, je weiter man nach oben kommt, kleiner und kleiner werden und ihnen doch noch etwas abgetrotzt wird, wie die Vegetation sich verändert und Kakteen häufiger werden. Nun haben diese Neulinge noch das Beste vor sich und wissen es nicht.
Josh hat Geduld. Aus der Wandergruppe werden Wanderer: Hannes packt seinen Schirm aus, weil die Sonne knallt, Jens und Reiner müssen unbedingt Pflanzen bestimmen, Larissa will gucken, nach unten, wo Imada allmählich verschwindet und der Atlantik blau schimmernd immer mehr Platz einnimmt. Fast ist es zu bedauern, dass wir schon so weit oben sind. Das Gepäck für die jeweils zwei Tage ist glücklicherweise und ausnahmsweise per Taxi unterwegs: Eine lange Hose und ein Pulli mussten mit. Zwar herrschen auf Gomera das ganze Jahr über frühlingshafte Temperaturen, aber oben, wo der Passatwind durch die Kiefern, Lorbeerbäume und die Baumheide streicht und der Nebel hängen bleibt, kann es kalt werden, richtig kalt und feucht.
Die letzten Meter dieser Wand – ein Glück, dass es kühler wird hier oben, das macht das Laufen leichter. Dann ist es wie ein Traum: Plötzlich keine Kakteen mehr, nicht mehr das Braungrün, sondern eine bunte Blumenwiese, wild, mit gelben, blauen, roten, lila Blumen. Irgendjemand hat sich einen Wunsch erfüllt: hat das weiße, niedrige Häuschen mit den roten Dachziegeln hier auf der Ebene bezogen und hat noch mehr Blumen angepflanzt, Rosen, die die Mauer entlangklettern.
Das ist Gomera außerhalb des deutschlandweit bekannten „Walle“, des Valle Gran Rey: eine Insel voller Überraschungen. Alexander von Humboldt soll hier gesagt haben: „Wenn die Wunder nicht bald aufhören, bin ich bald ganz von Sinnen.“ Wahrscheinlich hat er auch Pflanzen bestimmt und hat dazu beigetragen, dass man weiß, wie viele Arten es sind: 3.000, davon 143 endemisch; sie kommen nur hier vor. Deutschland hat weniger als 10 endemische Arten. Humboldt war sicher auch in einem der ältesten Urwälder Europas, dem Nationalpark Garajonay. Er nimmt ein Drittel der Inselfläche ein und wurde 1986 von der Unesco zum Welterbe erklärt. Zu Recht. „Nehmt euch Zeit“, sagt Josh, „geht auch mal allein da durch. Wir sehen uns unten, wo der Weg einen Bach kreuzt.“
Im Wald ist es fast dunkel. Kaum ein Baum wächst gerade, sie wachsen wirr, quer und verästelt, verdreht und verdrechselt, sind behangen mit Flechten und bewachsen mit Moosen: ein grünes, feuchtes Dickicht, das auch noch den letzten Tropfen Wasser aus den Wolken kämmt, die sichtbar durch die Äste schweben. Meterhohe Farne am Boden, Pilze an den toten Ästen. Kein Vogel ist zu hören, nur der Wind und die fallenden Tropfen. Eine urtümliche Welt. Als sich alle am Bachufer versammelt haben, ist es ruhig, niemand redet.
Früher einmal war Gomera fast ganz bewaldet. Dann hat man abgeholzt und exportiert. Holz war eines von vielen Produkten, mit denen die Bewohner versucht haben, der Armut zu entkommen: Holz, Seide, Wein, die Cochenille-Laus, die geröstet und gemahlen Campari und Lippenstifte rot färbt, Zuckerrohr, Bananen und Tomaten.
Nichts hat den Wohlstand auf die Insel gebracht. Bananenplantagen gibt es zwar noch ein paar, aber seit der EU-Bananenregelung stagniert auch das. Bevor die letzten der verbliebenen 17.000 Gomeros den Weg nach Westen, nach Venezuela, antreten, wie es in den vergangenen 30 Jahren schon über 20.000 getan haben, soll der Tourismus zum wirtschaftlichen Motor werden. Dafür wurden aus 50 Kilometer Asphalt innerhalb von 40 Jahren 300 Kilometer Asphalt; im Valle Gran Rey spricht man Deutsch, an den Aussichtspunkten spucken Ansammlungen kleiner Jeeps kamerabehängte Gruppen aus. Wie oberhalb von Agulo, der durchaus meisterbaren zweiten Wand – wir fühlen uns nach sechs Tagen fit.
Hier versucht die kanarische Regierung, den größten Mangel zu beheben, an dem die Insel – neben dem Geldmangel – leidet und der mit den Touristen zunimmt: Wassermangel. Mit einem Aufforstungsprogramm soll hier irgendwann wieder Wald wachsen und das Wasser festhalten: Zwischen dem Rotbraun der Erosionsrinnen leuchtet hellgrüner Lorbeer gegen den blauen Himmel. Einige Hügel hat man so schon neu bewalden können.
Auch wenn es immer mehr werden, die die Insel besuchen: Es gibt keine Hotelburgen, lässt man das Valle und die Luxushotelanlage Tecina einmal außer Acht. Dafür hat Gomera zu wenig zu bieten. Dabei ist die Insel so schön, wie eine Wilde nur sein kann – aber man muss schon bergauf und bergab laufen, mit dem typischen geräucherten Käse, dem queso ahumado, im Gepäck, und mit Wasser, um ihre Schönheiten zu entdecken: den Wald, die vor hellem Gras leuchtenden Terrassen. Oder den kulinarischen Genuss in einem spanischen Restaurant: die potaje de berros, die Brunnenkressesuppe, in einem handgeschnitzten Holztopf, mit gofio, diesem merkwürdigen Mehl aus geröstetem Getreide, und inseleigenem Wein, Ziegengulasch und chupitos de ron, ein bisschen Rum, um die Strapazen zu begießen und zu vergessen. Der ist hier gut verträglich.
Wandern auf steinigen, schmalen Wegen, in der Sonne, im Nebel, im Nieselregen. Wandern auf Gomera bringt einen weit weg: 400 Kilometer von der afrikanischen Küste ist man hier Südamerika näher als jedem anderen Kontinent: „Wir sind Afrikaner“, sagt José von der Bar El Piloto in Hermigua in reinstem Spanisch und legt dieselbe Salsakassette zum dritten Mal ein: Es darf getanzt werden, trotz Wandern und Unmengen frischen Fischs im Bauch. Auch das schaffen wir: ein Wunder, ein letztes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen