: Mehr war nicht drin
DAS SCHLAGLOCHvon KLAUS KREIMEIER
„Er hat seine Leistung gebracht.“ Erich Ribbeck über Lothar Matthäus
Mehr war nicht drin – so das teils melancholische, teils buchhalterische Fazit dessen, der vor sich selbst und anderen ein Scheitern eingestehen muss, doch noch in der Klausur seiner vier Wände die radikale Abrechnung scheut. Den objektiven Kräfteverhältnissen wird angelastet, was zunächst eine Analyse der eigenen Schwächen und der Ursachen subjektiven Versagens erfordern würde. „Mehr war nicht drin“ – mit diesem Stoßseufzer wird die deutsche Fußballnationalmannschaft wohl heute ihre Koffer packen. Der eine wird dabei an die ungünstige Gruppenauslosung, der andere an die starken Gegner, an den schlecht beratenen Trainer oder an die Fehler seiner Mitspieler denken – kaum jemand an die Mediokritäten, die er sich selbst geleistet hat.
Mehr war nicht drin: Auch auf dem bevorstehenden Bundesparteitag der Grünen werden zumindest diejenigen der Partei-Elite, die taktisch zu klug sind, um den „Atomkonsens“ als Triumph über die Konzerne zu verkaufen, bei dieser Formel stiller Selbstbescheidung und resignierten Sichfügens angesichts unverrückbarer ökonomisch-politischer Machtverhältnisse ihre Zuflucht suchen. „Mehr war nicht drin“ – in der Wendung bleibt in der Schwebe, ob die Kläglichkeit der Sachlage erkannt oder nur eine Umschreibung für beschwichtigende Selbstsuggestion gesucht wird. Denn etwas, irgendetwas – so wehrt sich das beschädigte Ego gegen die drohende Demütigung – hat man schließlich ja auch erreicht.
Mag diese Rede in zahlreichen Wechselfällen des Lebens somit kaum unser Vertrauen verdienen, so sagt sie andererseits eine Menge über den Status quo im Prozess der Selbstbildkonstruktion der deutschen Leistungsgesellschaft aus. Die „Green Card“-Aktion Schröders hat in diesem Punkt ein unmissverständliches Signal gesetzt, und sie könnte sogar als sympathischer Beweis für eine neue, nicht modisch zur Schau gestellte, sondern objektiv wie subjektiv begründete Bescheidenheit gelesen werden, wenn sie die Ghostwriter des Kanzlers nicht sogleich als Highlight deutscher Weltoffenheit und Gastfreundlichkeit vermarkten würden, während gleichzeitig Inder und Afrikaner von deutschen Bürgern durch Straßen gehetzt, verprügelt und totgeschlagen werden. Kein Regierungssprecher bringt die Redlichkeit auf, den Einwanderungswilligen zu erklären: Mehr als der Schutz, den euch unsere Verfassung bietet, ist zur Zeit nicht drin.
Der Kern der Schröderschen Botschaft lautet schlicht: Wir wollen Spitzenreiter auf dem Gebiet der Informationstechnologien sein, aber in der Ausbildung geeigneter Spezialisten haben wir den Anschluss verpasst. Aus eigener Kraft schaffen wir es nicht; wir brauchen Informatiker anderer Nationen, die auf die Lage schneller reagiert haben als wir und uns jetzt auf die Sprünge helfen müssen. Mehr ist im Augenblick nicht drin. Eine ernüchternde Einsicht – und erstaunlich in einem Land, das wie kein anderes in Europa mit einem höllisch sturen Ernst, um den uns lebensfrohere Völker beneiden mögen, und einem nachgerade preußischen Kommandoton, den besonders die sozialdemokratischen Pioniere der Modernisierung verinnerlicht haben, das Geschäft der Ökonomisierung und der technologischen Umwälzung betreibt.
Nicht nur die tägliche Fernsehwerbung, auch die metallisch glänzenden Konzernbroschüren, die Regierungsprosa der Kultus- und Wissenschaftsministerien und die Hauspostwurfsendungen der regionalen Wirtschaftsverbände trichtern den Deutschen gnadenlos ein, dass zu den Verlierern gehört, wer seinen Laden und alles, was er so treibt, nicht sofort per Internet, Handy und E-Mail mit dem globalen Gang der Dinge vernetzt. „Mobilität“, „Flexibilität“ heißen die Zuchtruten, die den heute Abhängigen die Angst vor sozialer Deklassierung beibringen sollen. Lernprozesse, deren spielerisch-produktiver Charakter von den Kindern längst erkannt wurde, werden den schwerfälligeren Erwachsenen als Schweiß treibender Kraftakt verordnet, der notwendigerweise Armeen von Enttäuschten, Verängstigten, letztlich Verlierern produziert. Kein Wunder, dass sich Erschöpfungszustände einstellen. Wir wollen ganz nach oben, aber mehr als monotone Selbstanfeuerung, die den dumpfen Gesängen deutscher Fan-Blocks in den Fußballstadien gleicht, ist im Moment einfach nicht drin.
Kaum vergeht ein Tag ohne die Schreckensmeldung, dass die Bundesrepublik in irgendeiner europäischen Statistik auf einen der letzten Plätze zurückgefallen sei. Doch was ist an diesen Meldungen eigentlich so schrecklich? Vielleicht braucht dieses Land – nach zwei Weltkriegen, zwei Diktaturen, kräftezehrender Spaltung und nervenaufreibender Wiedervereinigung – einfach mal eine Auszeit. Die Deutschen waren stets für Spitzenplätze zuständig, auch für die Rohheit, die notwendig war, um sie zu erobern, und für die Anmaßung, die mit der Rohheit stets im Bunde war. Vielleicht müssen wir erst ans Tabellenende rutschen, um zu einer realistischen Einschätzung unserer Kräfte zu gelangen. Nicht nur Günter Netzer prophezeit uns ja eine lange Durststrecke, um unsere „alten Tugenden“ zu renovieren und wieder kulturfähig zu werden.
Zum Glück ist das schamlos-dreiste Gerede von der „Berliner Republik“ erst einmal verstummt; wer so prahlte, muss jetzt feststellen, dass die Hauptstadt nicht einmal mehr ihre Theater bezahlen kann. Das Deutschland nach 1989, unsere schwierige Seelenlandschaft, liegt nicht gerade im Zentrum weltweiter Aufmerksamkeit – was man übrigens auch schon vor dem Fehlstart der Expo hätte wissen können. Bald hinter unseren Grenzen schwindet das Interesse an unserer Sprache, unserer Kultur – so scheint es nur konsequent, dass die Goethe-Institute und sogar immer mehr Botschaften dichtgemacht werden; sie rechnen sich nicht mehr. Kaum ein ausländischer Verlag, der sich für die heute in Deutschland geschriebene Literatur interessierte. Das Land der Dichter und Denker ist im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit nicht mehr existent; es wurde im 20. Jahrhundert ausgelöscht.
Allerdings war es auch verdammt anstrengend, ständig Schwergewichtsweltmeister im Dichten und Denken und überdies möglichst alle vier Jahre Fußballweltmeister zu sein. Mit dem Widerspruch zwischen unserem Selbstbild und dem Bild, das sich andere von uns machten, kamen wir nie ins Reine; jetzt, da mehr nicht drin ist, besteht vielleicht eine Chance zu stiller Einkehr und größerer Gelassenheit. Es ist sicher kein Zufall, dass wir heute auf Gebieten, die Schnelligkeit, strukturelles Denken, Mathematik und technische Phantasie erfordern, einstweilen ins Hintertreffen geraten sind. Hier helfen auch die „alten Tugenden“ nicht weiter – im Gegenteil: Sie stehen uns eher im Weg.
Was ist zu tun? Wir können uns Mühe geben, von den anderen lernen, mal Pause machen und gelegentlich darüber nachdenken, dass es auch seine Vorteile haben kann, nicht immer mit der Nase ganz vorn zu sein. Mehr jedenfalls ist offensichtlich nicht drin.
Hinweise:Vielleicht müssen wir ans Tabellenende rutschen, um zu lernen, unsere Kräfte richtig einzuschätzenJetzt, da mehr nicht drin ist, haben wir die Chance zu stiller Einkehr und größerer Gelassenheit
Autorenhinweis:Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler. Er leitet den Medienstudiengang an der Universität Siegen und ein Projekt zum Dokumentarfilm der Weimarer Zeit. Zuletzt erschien sein Buch „Lob des Fernsehens“ (Hanser).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen