: Julia Kaldinski
Die Diplomarabistin und Kulturwissenschaftlerin, heute tätig als Sachbearbeiterin
Für Julia Kaldinski (39) hat sich in den letzten zehn Jahren alles verändert. Damals hatte sie einen überdurchschnittlich guten Job und saß in einer langweiligen Ehe fest. Heute hat sie einen Job, der sie nicht glücklich macht, ist geschieden, lebt mit ihren beiden Kindern allein. Und sie ist frisch verliebt.
Geboren und aufgewachsen ist Julia Kaldinski in Lauchhammer in Süd-Brandenburg. Studierte in Leipzig, trat der Partei bei, zog nach Ostberlin, arbeitete als Dolmetscherin im Südjemen, später, bis zur Wende, in Libyen, an der DDR-Botschaft. Sie verdiente gut. Ein Teil des Gehalts wurde in der Landeswährung ausgezahlt – auch in Libyen war die Ostmark kein Zahlungsmittel. Vom Rest blieb genug, um noch sparen zu können. Auch nach der Wende, in Kamerun, wo ihr Mann drei Jahre lang für den Deutschen Entwicklungsdienst arbeitete. Heute ist sie froh, durch das Gesparte eine kleine Sicherheit zu haben. „Geld“, sagt sie, „hat plötzlich mit Abhängigkeit zu tun und mit existenziellen Ängsten. In der DDR war Geld nicht das Problem. Man brauchte sich darüber keine Gedanken zu machen und hatte den Kopf frei für anderes.“
Vom Mauerfall erfuhr sie durch die libyschen Fernsehnachrichten und die Deutsche Welle. Nächtelang konnte sie nicht schlafen. Sie verschlang die „gewendeten Ost-Zeitungen“, die einmal pro Woche aus Ostberlin kamen und „so spannend waren wie nie zuvor“. Als sie mit der Wiedervereinigung arbeitslos wurde und am 3. Oktober 1990 aus Libyen ausreisen musste, hat sie die Zeitungen mitgenommen und bis heute aufbewahrt. Bis heute wühlt es sie auf, über diese Zeit zu sprechen, ohne dass sie sagen könnte, warum.
Zur Währungsunion reiste sie nach Berlin, um für ihr Kind ein Sparkonto einzurichten. Je Kind konnten zweitausend Mark eins zu eins getauscht werden. An den Tag selbst erinnert sie sich nicht. Nur an die leeren Einkaufsregale. Und daran, wie seltsam es war, den Kopf voll mit Politik zu haben – und mit der ganz profanen Sorge, „sich finanziell möglichst gut hinüberzuretten“ in das neue System.
Von 91 bis 94 Kamerun, dann wieder Berlin, Arbeitslosigkeit, Weiterbildung zur Assistentin im Auslandsgeschäft, Scheidung, ein Job mit schmalem Gehalt, als Sachbearbeiterin in einer Firma, die hochpreisige Designerkleidung vertreibt. Sie selbst legt keinen Wert auf teure Sachen, kauft bei H&M, führt „ein Leben im Low Budget“. Lieber erfüllt sie sich einen Traum und fliegt für ein paar Tage nach New York.
Jetzt arbeitet sie nur noch halbtags und studiert daneben Psychologie. Weil der Kopf neue Gedanken braucht, weil es so viel nachzuholen gibt. Sie fühlt sich „wie Phoenix aus der Asche“, als wäre das Leben neu, sie will „nie mehr in den Käfig zurück“. Nur manchmal fürchtet sie, dass die Zeit nicht reichen könnte für all das, was sie noch machen will. Das Geld wird hoffentlich irgendwie reichen.
VERENA KERN, 36, lebt als freie Journalistin in Berlin
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