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Der falsche Täter

Die Ureinwohner der USA wurden oft tödlich verfolgt. Einer hat sich gewehrt – Leonard Peltier. Das FBI hängte ihm vor 25 Jahren zwei Morde an. Alle Appelle an Präsident Clinton, ihn freizulassen, schlugen bislang fehl

von STEFAN SCHAAF

Ein Mann befindet sich seit 24 Jahren in Haft, zuletzt in Fort Leavenworth im US-Bundesstaat Kansas. Beide Morde, für die er verurteilt wurde, hat er höchstwahrscheinlich nicht begangen. Der für ihn zuständige Staatsanwalt hatte schon vor fünfzehn Jahren zugeben müssen, dass er keine Beweise für die Täterschaft jenes Mannes habe. Und ein lange zurückgehaltenes FBI-Telex hat längst bestätigt, dass die tödlichen Kugeln nicht aus seiner Waffe kamen. Kein Wunder, denn ein anderer Mann hat vor laufenden Kameras gestanden, die Tat begangen zu haben.

Amnesty international stuft ihn als politischen Gefangenen ein und fordert seine „sofortige und bedingungslose“ Freilassung. Die Rede ist von Leonard Peltier, einem Ojibwa-Indianer, der dafür büßen muss, dass das FBI in den Siebzigerjahren den militanten Widerstand traditionalistischer Indianer brechen wollte. Prominente, Kongressabgeordnete und viele PolitikerInnen im Ausland haben sich für Peltier eingesetzt. Alle Rechtsmittel gegen seine Verurteilung sind mittlerweile ausgeschöpft.

Schon 1993 appellierte deshalb Peltiers Anwalt Ramsey Clark an Präsident Bill Clinton, den Gefangenen zu begnadigen. Millionen von Unterschriften sind in der ganzen Welt dafür gesammelt worden. Jetzt wächst der öffentliche Druck auf den scheidenden Präsidenten weiter, im Fall Peltier Gnade walten zu lassen. Bisher hat weder das US-Justizministerium Stellung bezogen, noch hat das Weiße Haus darauf reagiert. Vor wenigen Wochen wurde auch eine Freilassung Peltiers auf Bewährung abermals verweigert, trotz seines schlechten Gesundheitszustands und trotz guter Führung.

Ein Blick zurück. 26. Juni 1975, Pine-Ridge-Reservat, South Dakota. Auf dem Grund von Harry und Cecilia Jumping Bull, zwei älteren Lakota-Indianern, kommt es zu einer Schießerei zwischen zwei bewaffneten Eindringlingen und einer Gruppe von Indianern, Mitgliedern des „American Indian Movement“ (AIM). Sie haben dort ihr Lager errichtet, weil das Lakota-Paar um Schutz gebeten hatte. Attentate und Schießereien waren damals trotz massiver FBI-Präsenz in Pine Ridge an der Tagesordnung. Wie sich herausstellte, sind die beiden ungebetenen Besucher an jenem Morgen FBI-Ermittler. Sie suchten einen Lakota namens Jimmy Eagle, der ein Paar Stiefel gestohlen habe.

Wer die ersten Schüsse abgegeben hat, ist nie geklärt worden. Aber innerhalb von Minuten sind weitere 150 FBI- und Polizeibeamte vor Ort und riegeln die Zufahrtswege ab. Noch lange wird von beiden Seiten geschossen. Das AIM-Mitglied Joe Stuntz sowie die beiden FBI-Beamten Ron Williams und Jack Coler werden von Kugeln getroffen. Die Polizisten hätten blutend neben ihren Fahrzeugen am Boden gelegen, fasst der Staatsanwalt später die Ermittlungen zusammen, da habe einer der Indianer sie aus nächster Nähe erschossen. Dieser Mann, so will er wissen, sei Leonard Peltier gewesen.

Nach der Schießerei fliehen Peltier und etwa drei dutzend weitere Lakota-Indianer vom Reservatsgelände. Es dauert Tage, bis Beweise gesichert, Wochen, bis angeblich Beteiligte verhört werden. Danach werden vier Indianer wegen Mordes an Williams und Coler angeklagt, darunter Peltier. 1976 wird er in Kanada festgenommen.

Mit einer gefälschten Zeugenaussage – das gibt selbst das FBI inzwischen zu – setzen seine Ankläger die Auslieferung an die USA durch. Die Verhandlung gegen Peltier findet vor einem anderen Gericht als die gegen seine Mitangeklagten statt. Zwei von ihnen waren freigesprochen worden, da sie zur Selbstverteidigung geschossen hätten; gegen den dritten, Jimmy Eagle, wurde die Anklage fallen gelassen – ein unverständlicher Schritt, denn er hatte sich mehrfach, wenn wohl auch unzutreffenderweise, der Tat gerühmt.

Die Ermittlungen, so ein verräterisches Dokument des Staatsanwalts, sollten sich ganz auf Peltier konzentrieren. Die Polizei findet Zeugen, die bestätigen, dass Peltier vor Ort war; sie findet eine Patronenhülse und später ein angeblich dazu passendes Gewehr – laut Staatsanwalt die Tatwaffe. Das genügt: Peltier ist der einzige, der verurteilt wird – zweimal lebenslänglich. Die Indizienbeweise gegen ihn überzeugten damals die Jury, doch inzwischen, nach jahrelangem Kampf der Anwälte um die entsprechenden Dokumente des FBI, ist klar: Es gibt weder Zeugen noch Indizien für Peltiers Täterschaft.

Von Peltier nie bestritten ist lediglich, dass er einer von sechs oder sieben Indianern war, die aus großer Entfernung auf die FBI-Leute feuerten. Peltier beteuert: „Ich habe die beiden Agenten nicht erschossen, ich habe sie nicht sterben sehen, hatte meine Hand dabei nicht im Spiel.“ Niemand hat ihn je als den Schützen, der aus nächster Nähe auf die verletzten Coler und Williams feuerte, identifiziert. Vor allem wurde vor Gericht die gesamte Vorgeschichte der Ereignisse vom 26. Juni 1975 ausgeblendet. Die hätte womöglich erklärt, warum das FBI Leonard Peltier hinter Gitter bringen wollte.

Er war ein wichtiger Organisator und Mitarbeiter von Dennis Banks, einer Leitfigur im AIM. Die Stammesregierung im Pine-Ridge-Reservat war von der neuen Militanz der indianischen Aktivisten verunsichert. Ab 1973, erinnert sich Peltier, „herrschte dort quasi Bürgerkrieg“. Bewaffnete Zivilisten hätten „beinahe täglich aus fahrenden Autos geschossen, Leute verprügelt, gemordet und die Häuser der Ältesten und AIM-Anhänger niedergebrannt“.

In den drei Jahren nach der Besetzung von Wounded Knee kam es zu mehr als sechzig Morden an AIM-Unterstützern. Stets war das FBI im Reservat präsent, untersucht oder aufgeklärt wurden diese Verbrechen dennoch nicht. 1977 stellt eine Untersuchungskommission dem FBI ein vernichtendes Zeugnis über jene Jahre aus: Die Bundespolizei habe seit Wounded Knee „in systematischen Bemühungen den Versuch unternommen, das AIM und seine Führer und Anhänger aufzureiben, einzuschüchtern und auf andere Weise unschädlich zu machen“.

Zu den FBI-Taktiken gehörten unter anderem „Verhaftungen ohne Begründung, auch von Frauen und Kindern, der Gebrauch von bezahlten Informanten, Meineid und Missachtung von Gerichtsbeschlüssen“. All das erklärt, warum ein älteres indianisches Paar sich auf seinem abgelegenen Gehöft im Pine-Ridge-Reservat damals bedroht fühlte und das AIM um Hilfe rief.

Ohne Antwort bleiben wesentliche Fragen: Was wollten die FBI-Leute auf dem Grundstück wirklich? Sollte hier ein Zwischenfall provoziert werden? Sollte der Kampf der Lakotas um die Rückgabe der Black Hills, in denen Gold und Uran gefunden worden waren, sabotiert werden? Aus der angeblichen Tatwaffe, so fanden Experten nach einer Untersuchung der Patronenhülsen heraus, sind die tödlichen Schüsse gar nicht abgefeuert worden. Dies wurde aber erst Jahre später bekannt. Deshalb musste der Staatsanwalt schon in der Revisionsverhandlung von 1985 zugeben: „Aber wir wissen nicht, wer die beiden Agenten erschossen hat.“ Er redete sich damit heraus, dass Peltier auch für Beihilfe zum Mord mit lebenslanger Haft bestraft werden könne.

Bundesrichter Gerald Heaney verweigerte damals die Aufhebung des Urteils. Mittlerweile aber fordert der selbe Richter Peltiers Begnadigung. Das FBI habe damals unfair gehandelt. „Es ist Zeit, einen Heilungsprozess zu beginnen. Dabei würde es helfen, wenn der Präsident im Fall Peltier aktiv würde“, schrieb er. Auf mehr als sechshundert Seiten hat der Schriftsteller Peter Matthiessen den Fall Peltier und dessen Hintergründe rekonstruiert.

1991 sendete CBS einen Film, in dem Matthiessen einen „Mister X“ genannten Mann interviewt, der seinen Kopf verhüllt hält. Der beschreibt detailliert die Ereignisse an jenem Junitag 1975 und gibt zu, dass nicht Peltier, mit dem er befreundet sei, sondern vielmehr er selbst die beiden Agenten erschossen habe. Die Identität dieses Mannes ist bis heute nicht bekannt.

Peltier ist heute 55 Jahre alt. Seine endgültige Freilassung haben die Behörden auf das Jahr 2041 terminiert. Wird Präsident Clinton ihn vor seinem Abschied begnadigen? In einem ähnlichen Fall wurde der Black-Panther-Aktivist Geronimo Pratt 1997 nach 27 Jahren Haft freigelassen. Im Juli vorigen besuchte Clinton das Pine-Ridge-Reservat. Im November begnadigte er zwölf puertoricanische Untergrundkämpfer.

Fakten, die die Peltier-Unterstützer hoffen lassen. Doch jedesmal protestierten die Law-and-Order-Fanatiker lautstark gegen die ihrer Meinung nach unberechtigte Milde. Clinton weiß, dass eine Begnadigung Peltiers seinen Parteifreund Al Gore bei den Präsidentschaftswahlen im November Stimmen kosten würde.

STEFAN SCHAAF, 44, lebt und arbeitet als freier Journalist in Hamburg

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