Fußgänger sind Nebensache

von KATHARINA KOUFEN

Autos werden immer sicherer – aber nur für die Insassen. Airbags, vor einem Vierteljahrhundert noch Zukunftsmusik, gehören mittlerweile zum Auto dazu wie Scheinwerfer und Scheibenwischer. In den Forschungsabteilungen von Opel, VW und DaimlerChrysler denkt man derzeit gar darüber nach, wie man die Blechkarossen mit künstlichen Augen und Hirn ausstatten kann – falls der Fahrer einmal ausfällt. Doch auch damit verfolgen die Autohersteller vor allem das Ziel, „Sicherheit und Komfort des Fahrers zu erhöhen“, wie es in einem Forschungsbericht von DaimlerChrysler heißt.

Fußgänger: Lästig wie Ampeln

Fußgänger kommen dort hauptsächlich als „bewegte Objekte“ vor – neben anderen Hindernissen wie Ampeln und Stoppschildern. Dabei leben Fußgänger und Radfahrer nach wie vor gefährlich. In den letzten Jahren hält der immer dichter werdende Großstadtdschungel speziell für sie eine neue Gefahr bereit: Geländewagen. Mehr als eine Million dieser martialischen Geräte gibt es mittlerweile in Deutschland. In den USA geht sogar schon jede zweite Zulassung an einen Jeep, Landrover oder ein anderes Modell aus der Wildwest-Familie. Gerüstet für steinige Pisten und Waldwege werden die tonnenschweren Gefährte im Stadtchaos zur besonderen Bedrohung für Fußgänger. Denn was ursprünglich zur Abwehr schwerer Kuhkörper gedacht war, wird vor allem Kindern unter 1,20 Meter Größe leicht zum Verhängnis: der Frontbügel, im Volksmund auch Kuhfänger genannt.

Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) kam zu dem Ergebnis, dass infolge von Kollisionen „ungeschützter Verkehrsteilnehmer mit Geländefahrzeugen“ bei einer Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern beim Kopfaufprall eines Kindes „etwa gleich starke Belastungen auftreten“ wie beim Zusammenstoß mit einem normalen Pkw, der mit 40 Stundenkilometern unterwegs ist. „Schon bei geringen Kollisionsgeschwindigkeiten treten komplizierte Frakturen auf“, heißt es. Nach einer Untersuchung in den USA werden dort bei Unfällen mit Geländewagen 25 Prozent mehr Fußgänger und Zweiradfahrer getötet als bei Unfällen mit herkömmlichen Pkws.

Zur Verringerung des hohen Risikos, so BASt-Sprecherin Iris Schneidermann, müssten die Stahl- oder Chromrohre der Kuhfänger aus Kunsttoff hergestellt oder mit einer stoßdämpfenden Schicht überzogen werden.

Getötet bei Tempo 8

Dasselbe fordern auch Verbände wie der Verkehrsclub Deutschland (VCD) oder die Schweizer Vereinigung für Familien der Straßenopfer (VFS). Der VCD will nächstes Jahr eine Kampagne für Fußgängersicherheit starten, die Schweizer verklagten in einem Musterprozess den Importeur eines Geländewagens, mit dem 1997 ein fünfjähriger Junge getötet wurde – bei Tempo 8. „Den Zusammenstoß mit einem gewöhnlichen Pkw hätte der Junge bei dem Tempo wahrscheinlich überlebt“, meint der Vater. Der Prozess endete mit einem Vergleich.

Die Europäische Kommission tüftelt bereits seit mehreren Jahren an einer Richtlinie, die die verhängsnisvollen Stoßstangen verbieten soll. Bislang vergeblich. „Dass das so lange dauert, liegt ganz einfach daran, dass es keine starke Lobby gibt“, meint VCD-Sprecher Reinhartz. In der Schweiz sind die Teile zwar inzwischen verboten.

Visuelle Fahrer-Assistenz-Systeme

Doch viele Liebhaber der Erwachsenenspielzeuge hielten sich einfach nicht daran, sagt VFS-Geschäftsführer Christian Engelhart. In Deutschland ticken die Geländehelden ähnlich. Was zählt, ist das coole Outfit. Per Internet erteilt man sich Ratschläge: „Ich frage mich schon seit langem, ob es möglich ist, die aufdringlichen Kuhfänger-Kunststoffstangen zu ersetzen. Gibt es nicht irgendwo schmale Chromstoßstangen wie etwa bei älteren Modellen?“, mailte ein Besitzer eines Spider DS an die Fangemeinde. Zwei Antworten kamen prompt: ein Tipp, die Dämpfer „anzubohren“ und damit untauglich zu machen, was „viel besser aussieht“, sowie eine Adresse, wo man die alten verchromten – und damit gefährlicheren – Stoßstangen bestellen kann.

Zwar gibt es bereits Ideen, wie Fußgänger wirksamer vor harten Motorhauben, Kotflügeln, Stoßstangen und Windschutzscheiben geschützt werden könnten. Doch bislang zeigen die Autohersteller wenig Interesse an der Umsetzung. Der Grund liegt auf der Hand: Viele Kunden wären womöglich nicht bereit, beim Kauf eines Autos dafür draufzuzahlen, dass im Falle eines Unfalls ein anderer davon profitiert.

Dabei könnte der technische Fortschritt, etwa aus dem Hause DaimlerChrysler, auch den Fußgängern zugute kommen – wenn er denn in die Entwicklung neuer Modelle Eingang findet und irgendwann serienmäßig dazugehört. Beispielsweise die visuellen Fahrer-Assistenz-Systeme, wie die computergesteuerte Verbindung von Augen und Hirn für das intelligente Auto genannt werden. Das sind Stereobildkameras, deren Objektive mit einem Abstand von 30 Zentimetern zu beiden Seiten des Rückspiegels im Auto angebracht werden. Von dort aus werden die Verkehrssituationen in Stereobild-Paaren zusammengefasst und von einem fingernagelgroßen Computerchip ausgewertet. Das System sieht dreidimensional. Es erkennt Hindernisse und ist in der Lage, deren Position präzise zu bestimmen. Um die riesigen Datenmengen, die etwa vor einer belebten Kreuzung erzeugt werden, schnell auf die wesentlichen Informationen zu reduzieren, arbeiten mehrere Erkennungssysteme parallel.

Die Information, die der Minicomputer aus den Bildern ableitet, lässt sich auf einem Bildschirm wiedergeben oder an ein Geräusch koppeln – etwa an einen Warnton bei zu schneller Fahrt. In Zukunft, so hofft man bei DaimlerChrysler, könnten diese Informationen aber auch an Bremse oder Lenkrad weitergeleitet werden. Dann würden die Gurte gestrafft, die Airbags rechtzeitig ausgelöst. Dann könnte diese Information aber auch für eine automatische Vollbremsung sorgen, beispielsweise wenn ein Kind vor das Auto springt.

Künstliche Sehsysteme

„Solche Systeme“, meint Dirk Nebelung aus der Forschungsabteilung von DaimlerCrysler, „können vielleicht innerhalb der nächsten fünf Jahre in Serie gehen.“ Sein Kollege Hans-Gerd Bode von VW ist da weniger optimistisch: „Diese künstlichen Sehsysteme liegen im Moment noch im Bereich Zukunftsmusik.“ Derzeit würde eine solche Kamera „vierzig- bis fünfzigtausend Mark kosten“, sagt Christian Höck, Sprecher der Hamburger Firma Basler, die künstliche Sehsysteme herstellt. „Aber ich sage mal optimistisch: In sieben Jahren bekommt man die Kamera plus Minicomputer für 400 Mark.“ Dirk Nebelung spinnt den Faden weiter: „Angedacht“ sei eine Motorhaube, die sich auf ein vom System gesandtes Signal hin öffnet. Sie würde den Fußgänger abfangen und dessen Aufprall mildern.

Bis jetzt konzentrierte sich die Forschung vor allem auf Form und Material von Motorhaube, Kotflügeln und Stoßstangen. „Das Frontdesign“, so Nebelung, „muss möglichst rund und weich gestaltet werden.“ Der Dreiliter-Mini Lupo von VW etwa ist schon heute mit einer Motorhaubenfassung ausgestattet, die über die Kotflügel hinübergreift. Ähnlich einem Stein, der ins Wasser geworfen wird und kreisförmig Wellen abgibt, die nach außen immer kleiner werden, wird die Kraft eines Aufpralls auf die Motorhaube weitergeleitet und gedämpft. Bei den herkömmlichen Modellen endet dieser Radius bei der Naht zwischen Motorhaube und Kotflügeln.

Asphalt gibt nicht nach

Beim Material komme es auf dessen „Verformungsenergie“ an, sagt Nebelung. Denn: „Wenn sich das Material nicht verformt, dann tut es der Kopf des Fußgängers.“ Erfindungen wie die der Technischen Uni Berlin Anfang der 80er-Jahre, Autokanten mit Schaumstoff zu umhüllen, helfen wenig: Schaumstoff ist „berührungsweich, aber nicht stoßweich, und wird durchgeschlagen“, wie VW-Spezialist Bode erklärt. Wichtiger: die Knautschozone unter der Motorhaube. Denn damit sich das Blech bei einem Aufprall ausbeulen kann, muss zwischen der Haube und dem darunter liegenden Motor genügend Raum gelassen werden. Denkbar wäre auch ein Außenairbag, der beim Aufprall eines Körpers aufgeht. Aber: „Der ist weit entfernt davon, auf den Markt zu kommen“, so Bode.

Doch wie fußgängerfreundlich auch immer ein Auto designt wird – ein Problem wird bleiben: der Aufprall auf die Straße. Spätestens dieser zweite Aufprall auf den harten, unverformbaren Asphalt macht für Fußgänger und Radfahrer den Zusammenstoß mit einem Auto lebensgefährlich. Es sei denn, eines Tages werden die Straßen aus Gummi sein. Oder die Helmpflicht für Fußgänger wird eingeführt.