: Volk ist out, Staat ist sexy
Schluss mit lustig, Rechten und Gemeinsinn. Der Kanzler beschwört die geistig-moralische Führerschaft und wälzt den Sozialstaat auf die Zivilgesellschaft ab. Auch das zeitgeistige Feuilleton findet vordemokratische Regierungslehren ziemlich interessant. Zur geistigen Verfassung der „Generation Berlin“
von HAUKE BRUNKHORST
Schon im Wahlkampf hatte Schröder begonnen, sich das kommunitaristische Programm des amerikanischen Soziologen und Präsidentenberaters Amitai Etzioni anzueignen. Die halb populistische, halb etatistische Mixtur aus „family values“, guter Nachbarschaft, Gemeinsinn und „aktivierendem Staat“, die Etzioni seinen Landsleuten und der ganzen Welt als politische Verjüngungskur verschreiben möchte, versprach Übersichtlichkeit im Unübersichtlichen, persönliches Ethos statt bürokratischer Bevormundung. Nun, nachdem die Macht errungen ist, findet dieses Programm Anschluss an ältere Traditionen deutschen Staatsrechts.
In der Neuen Gesellschaft beschwört der Kanzler die Wiederkehr des Politischen, die geistig-moralische Führerschaft und einen Staat, der stark genug ist, die Sozialstaatsbürden Stück für Stück auf die Zivilgesellschaft abzuwälzen. Das unpolitische Bild, das er gleichzeitig von dieser Gesellschaft zeichnet, passt zur neuen Idee vom Staat, der erhaben über allen Klassen, Parteien und Interessen schwebt. Die Jungen helfen den Alten, die Unternehmer stiften, die Nachbarn üben sich in Früherkennung krimineller Energie, und der Staat hilft der bürgerlichen Moral, wo sie ihre Eigenverantwortlichkeit noch nicht erkannt hat, mit „guter Polizey“ (Hegel) auf die Sprünge.
Kern des kommunitaristischen Pudels, der in der neuen Mitte spazieren geführt wird, ist die keineswegs neue Trennung von (höherem) Staat und (niederer) Gesellschaft, die von Hegel bis Carl Schmitt dem Sonderweg des deutschen Staatsrechts die Richtung wies. Treffend hat der Historiker Christian Meier Schröders Wiederaufnahme dieses fatalen Erbes „vordemokratisch“ genannt. Aber Schröder ist erfolgreich.
In allen Parteien verschwindet der linke Flügel. Die Gewinnstrategie von Blair und Schröder besteht darin, die jeweilige Führung in Land und Partei von Partei, Fraktion und Parlament abzukoppeln. Stattdessen wird die freie Legitimation durch öffentliche Akklamation gesucht.
Dies wird mittlerweile von allen Parteiführungen nachgeahmt und von der eigenen Basis widerspruchslos geschluckt. Auch der jüngste Versuch des Kanzlers, die neoliberale Kombination des schlanken mit dem starken Staat durch eine passende Ideologie zu krönen, kann sich auf einen wachsenden Konsens aus aufgefrischter Postmoderne, forschem Jungkonservatismus und neokommunitaristischer Sozialdemokratie stützen.
Die erstaunlich glatt und rasch vollzogene Abkehr der Wochenzeitung Die Zeit von allen Verfehlungen ihrer politisch korrekten Vergangenheit ist ebenso symptomatisch wie die von dem Soziologen Heinz Bude beschworene Verwandlung sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter und Journalisten zur antiachtundsechziger „Generation Berlin“. Gleich das erste Heft der Berliner Republik, die programmatische Plattform der Schröder-Fans, haben die Herausgeber mit einem Beitrag des konservativen Zeit-Redakteurs Jan Ross eröffnet.
Lafontaines unrühmliches Ende, so Ross, habe das Schicksal der „linken“ und „roten“ Verteidiger des Sozialstaats besiegelt. Schluss mit lustig, „Selbstverwirklichung“, „Hedonismus und Kapitalismuskritik“. Nicht Rechte, sondern „Pflichten“ sind das Stützkorsett der kommenden „Selbstverantwortungsgesellschaft“. Statt Doppelpass und Multikulti wieder mehr Helmut Schmidt, Kurt Schumacher und „traditionelle sozialdemokratische Tugenden“. Getragen von „einer Mitte, die ebenso neu wie alt ist“, empfiehlt Ross den Führern des dritten Wegs, „einen neuen, härteren Klang des Wortes ‚Staat‘“ anzuschlagen.
Was ist das für ein Staat? Andernorts gibt Ross, die intellektuell markanteste Figur des schröderhaften Zeit-Geistes, preis, was er unter dem neuen, härteren Klang des Wortes Staat versteht. So findet sich in einem Merkur-Aufsatz (2/1997) ein hilfreicher Hinweis auf Ernst Forsthoffs „hellsichtigste Ehrenrettung des Staates“ in dessen Spätwerk von 1971, „Der Staat in der Industriegesellschaft“.
Das Buch hat gute Chancen, zur Fibel neusozialdemokratischer Regierungslehre zu avancieren. Forsthoff war seit den Zwanzigerjahren Carl Schmitts Musterschüler, einer der einflussreichsten Verwaltungsjuristen der Bundesrepublik und in den Dreißigerjahren ein bedeutender Theoretiker des totalen Staats. Für Forsthoff ist der Staat ein „geistig-sittliches“ Wesen, das höher steht als seine jeweilige – sei’s demokratische, sei’s autokratische – Erscheinung. Dieser von der entfesselten Anarchie gesellschaftlicher Mächte und Interessen bedrängte Staat könne ohne Substanzverlust nur überleben, wenn er seinen „sittlichen Anspruch“ auf „Gehorsam“ als Staat – und nicht etwa als Demokratie – gegen die Gesellschaft zur Geltung bringe.
Demokratie ist für Forsthoff selbst eine gesellschaftliche, potenziell staatsgefährdende Macht – ihr „verfasster Aspekt“. Ein Staat, der nur Verfassungsstaat ist, so lautet die autoritäre Botschaft, gibt sich selbst auf. Demokratie und Rechtsstaat sind – so Forsthoff in seiner von Ross als „hellsichtigste Ehrenrettung des Staates“ bezeichneten Schrift – nur ein dünnes „Gewand“, ein leichter „Mantel“, „der die Staatlichkeit umkleidet“, aber wenn es ernst wird, jederzeit abgelegt werden kann. Nur „dort, wo Regierung und Verwaltung in (...) Eigenständigkeit“ dem „rechtsstaatlichen Normativsystem“ entgegen- und „ohne den Vollzugsbefehl des Gesetzes auftreten, sind sie“, schreibt Forsthoff, „ ‚der Staat‘ und nichts weiter.“
Der langen Rede kurzer Sinn: Im substanziellen Staat ist die Exekutive der Souverän und nicht die Volkslegislative. Ganz in Übereinstimmung mit den von ihm und Schmitt vor und nach 1933 vertretenen Lehren sieht dessen Schüler die Gefahr des Totalitarismus „nicht beim Staat, sondern nur beim Volk“. Das ist der härtere Klang des Wortes „Staat“. Er klingt der Parlamentarierriege von der „Generation Berlin“ so sexy in den Ohren, dass sie darüber vergisst, nicht vom Staat, sondern vom Volk mandatiert zu sein.
Und eine Neuinterpretation der Grundrechte, wie Jan Ross sie im Rückgriff auf Carl Schmitts Lehre von den „institutionellen Garantien“ vorschlägt, soll denn auch den „Staat als Patron“ der „Lebensordnungen und Institutionen“ (Ross) vor allzu subjektiven Ansprüchen schützen. Rechte sind nach dieser stramm antiliberalen Lehre keine Trümpfe in der Hand des individuellen Subjekts, die stechen, wenn dessen Freiheit durch den Staat bedroht ist, sondern umgekehrt Trümpfe in der Hand des Staats, die stechen, wenn die Regierung glaubt, die Freiheit des Individuums gefährde dessen sittliche Substanz – Ehe und Familie, Sonntagsruhe, Wehrpflicht, Beamtentum, die christliche Kultur usw. Solange also die Ausübung der besonderen Gewalt des Familienvaters den friedlichen Genuss des „Sonntagsbratens“, den die Zeit-Autorin Susanne Gaschke noch immer zu kennen glaubt, und das Institut der Ehe sichert, könne die gezüchtigte Hausfrau sich auf ihre Rechte nicht berufen.
Wenn der Staat Patron ist, muss er auch entscheiden können, wann die institutionelle Substanz durch die Freiheit des Subjekts bedroht und aus solcher Freiheit „Staatsfeindschaft“ (Ross) geworden ist. Zugrunde liegt wiederum die vordemokratische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, hier die Institutionen der Staatssubstanz, Hobbes’ „sterblichen Gottes“, dort die substanzlosen Interessen des Subjekts, die sich zu Verbänden und Parteien zusammenrotten, den Staat belagern, um ihn – wie der konservative Staatsrechtler Heinrich Triepel 1931 formulierte – „in den Staub des Irdisch-Kleinlichen“ zu ziehen.
An die Stelle des demokratischen Sozial-, Parteien- und Verbändestaats sollen ein neuer, von verantwortlichen Eliten gesteuerter „Populismus des Unpopulären“ und „regierungsunmittelbare“ Herrschaftsausübung, wie sie in Biedenkopfs Zwergstaat schon an der Tagesordnung ist, treten. Das schlägt ein anderer Vordenker der „Generation Berlin“, der von links nach rechts und von der taz zur Zeit gewanderte Alarmismusalarmist Klaus Hartung vor.
Regierungschefs, im Zweifel bereit, die „Stunde der Exekutive“ (Hartung) schlagen zu lassen und den Buchstaben dem Geist der Verfassung zu opfern, wüchse die Rolle von Machiavellis „principe nuovo“ zu, der in schwieriger Zeit, wenn der kalte Wind der Globalisierung durchs Land fegt, die immer rascher wechselnden Gelegenheiten („occasioni“) beherzt beim Schopfe packt. Was an derlei Visionen irritiert, ist die stillschweigende Preisgabe des Modells demokratischer Repräsentation.
Bei der parlamentarischen Verfassung geht es nämlich nicht mehr darum, wie Schmitt und Forsthoff glaubten, wer eine als Staatsapriori vorgegebene politische Einheit repräsentiert, sondern nur noch darum, wer sie überhaupt erst erzeugen soll. Das hatte seinerzeit die Kelsenschülerin Margit Kraft-Fuchs in einer 1930 publizierten, ebenso brillanten wie vernichtenden Kritik an Schmitts Verfassungslehre von 1928 geltend gemacht.
Auf die alteuropäische, substanzialistische Frage nach dem richtigen Repräsentanten gab es immer nur die Antwort: der Beste, mochte das Kriterium nun blaues Blut, tugendhafte Tüchtigkeit oder die souveräne Beherrschung des Ausnahmezustands, die „Stunde der Exekutive“ sein. Schon an der Fragestellung scheiden sich indes die Geister.
Im ersten Fall – wer soll repräsentieren? – kann der Repräsentant des Ganzen nur eine Elite, ein besonders qualifizierter Teil sein, der fürs Ganze – pars pro toto – handelt. Aber nur im andern Fall – wer soll den Repräsentanten erzeugen? – ist demokratische Bevollmächtigung, die vom Volk ausgeht und durch das Volk – „by the people, through the people“ (Lincoln) – ausgeübt wird, überhaupt denkbar.
Bei demokratischer Repräsentation geht es nicht – wie in der Schule oder bei einem Job in der Wirtschaft – um die Auslese der Besten, sondern um die beste Methode, das „Ausgehen der Staatsgewalt vom Volke juristisch zu garantieren“, wie der Weimarer Verfassungsrechtler Hermann Heller sagte.
Der Sinn der demokratischen Verfassung ist nicht, wie die noch in der Verfassungsinterpretation der Bonner Republik höchst einflussreiche Schmitt-Schule immer behauptet hat, die Volksmacht einzuschränken, sondern allein, ihr die unverkürzte Realisierung zu ermöglichen. Demokratische Verfassungen wie das Grundgesetz haben – in ihrem Organisationsteil (Wahlmodalitäten, Parlamentarismus, Stellung und Teilung der Gewalten, Staatsbürgerschaft usw.) sowieso, aber auch in ihrem Grund- und Menschenrechtsteil – nur den einen normativen Zweck, die Souveränität des Volkes so zu verwirklichen, dass niemand ausgeschlossen und – soweit das möglich ist (zum Beispiel bei dauerhaft ansässigen Ausländern) – jede gesetzesunterworfene Person an der Gesetzgebung direkt oder durch direkt mandatierte Repräsentanten beteiligt wird.
Daran sollten sich Sozialdemokraten gelegentlich erinnern – statt jungkonservativ von der Stunde der Exekutive zu schwärmen und die Volkssouveränität der des Staates zu opfern.
Hinweise:Nicht Rechte, sondern Pflichten sind das Korsett der neuen GesellschaftDen Regierungschefs wächst die Rolle von Machiavellis „principe nuovo“ zu
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