Die gute Gesellschaft

DIE NEUEN UTOPIEN (8): Das Konzept der Zivilgesellschaft reicht nicht mehr aus, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Wir brauchen primär gemeinsame Werte

Die Liberalen sindmit ihrer Zurückweisungdes Staates übersZiel hinausgeschossen

Es gab Leute und Denkrichtungen, die behaupteten, dass vor allem der Staat der Weg ist zu einer guten Gesellschaft. Andere, und sie sind in der Gegenwart sehr einflussreich, behaupten, dass vor allem der Markt eine gute Gesellschaft ausmache. Neuerdings sprechen viele von dem Leitbild der Zivilgesellschaft. Ich bin da anderer Ansicht. Ich halte an dem alten Konzept einer „good society“ fest. Sicher, ich bin auch für die Zivilgesellschaft. Aber die Zivilgesellschaft ist nicht genug. Die Definition dieser „civil society“ sagt uns nicht, was gut ist und was schlecht in der Gesellschaft, welche Vereinbarungen beispielsweise einen Gewinn darstellen für den Einzelnen und für die Gesellschaft und welche nicht. Es gibt in den USA etwa einen Verband, dessen Mitglieder Tipps austauschen, wie man achtjährige Knaben verführt. Und auch eine Räuberbande ist ein Zusammenschluss von Menschen.

Also: „Good Society“ und „civil society“ sind keine Begriffe, die gleichsam in Opposition zueinander stehen. Die „gute Gesellschaft“ ist einfach das umfassendere Konzept. Sie pflegt und fördert zusätzliche Tugenden, um die sich die Zivilgesellschaft nicht kümmert. Man kann die beiden Konzepte auch mit konzentrischen Kreisen vergleichen: Der kleinere Kreis repräsentiert die Domäne der Zivilgesellschaft, der größere Kreis jene der guten Gesellschaft.

Deshalb plädiere ich für den nächsten Schritt innerhalb der Zivilgesellschaft: das Nachdenken über die „gute Gesellschaft“. Ich meine damit vor allem die Notwendigkeit von „moral dialogues“ in der Gesellschaft. Diese moralischen Dialoge sind etwas anderes als „venünftige Gespräche“, als kühle und rationale Prozesse der Kommunikation, die vielleicht die jeweiligen Interessen widerspiegeln und ausgleichen, aber ohne Leidenschaft ablaufen. Moralische Dialoge sind dagegen oft recht leidenschaftliche Diskussionen, die etwas verändern in der Gesellschaft; Prozesse, im Verlauf derer sich die gemeinsamen Werte herausbilden und an deren Ende dann auch ein Wandel der Gewohnheiten und der Einstellungen, der habits of the hearts, zu beobachten ist.

Die USA haben gute Erfahrungen mit Veränderungen durch moralische Dialoge gemacht – und schlechte mit anderen Methoden und Versuchen, einen Wandel im Verhalten der Menschen oder der gesamten Gesellschaft herbeizuführen. In den 20er-Jahren etwa wurde die Verfassung ergänzt und der Alkohol verboten, mit katastrophalen Folgen: Der Schmuggel nahm zu, der Alkoholmissbrauch auch, überhaupt die Kriminalität. Das ursprüngliche Ziel wurde nicht nur nicht erreichte, sondern es entstanden zusätzliche schlimme Übel. Die entsprechende Verfassungsänderung musste wieder zurückgenommen werden.

Ganz anders war es hingegen bei der Kampagne gegen das Rauchen. Es war nicht der Nachweis, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet und Krebs verursacht, was den Durchbruch gebracht hat. Das öffentliche Argument, der moralische Dialog darüber, dass Rauchen andere, nämlich Nichtraucher gefährdet, hat dazu geführt, dass man in der Öffentlichkeit nicht mehr rauchen darf. In ganz ähnlicher Weise hat sich die Debatte um den Umweltschutz seit den 50er-Jahren entwickelt. Es entstand eine neue moralische Verpflichtung.

Diese Beispiele zeigen: Es gibt keinen anderen Weg um die Gesellschaft nachhaltig zu verändern, als den kontinuierlichen moralischen Dialog.

Diese Beispiele über die Bedeutung moralischer Dialoge zeigen aber auch, wie sich die Kommunitarier von den Liberalen und Konservativen unterscheiden. Die liberale Position entstand als eine Zurückweisung des starken (und deshalb guten) Staates und als eine Verteidigung der persönlichen, politischen und wirtschaftlichen Freiheit. Aber die Liberalen sind übers Ziel hinausgeschossen und neigen dazu, jede Art von Gedanken und Formulierung einer guten Gesellschaft abzulehnen. Die Zivilgesellschaft ist ihr Konzept, und es ist ein wertneutrales Konzept.

Die Konservativen auf der anderen Seite setzen auf die Macht des Staates, um das Verhalten durchzusetzen, das sie als tugendhaft betrachten, vom Verbot der Abtreibung über Gebete in öffentlichen Schulen bis hin zu einer Bekämpfung des Drogenkonsums. Sie plädieren für mehr und schärfere Gesetze, für schwerere Strafen, für die Todesstrafe. Amerikanische Gefängnisse sind voll von Menschen, die gegen niemanden Gewalt angewendet haben, die sich „nur“ so und nicht anders verhalten haben. Alles in allem: Die religiöse Rechte und die Sozialkonservativen wollen den Staat gern mit der Aufgabe betrauen, die Menschen gut zu machen.

Die Kommunitarier unterscheiden sich von beiden Positionen. Sie widersetzen sich der staatlichen Regulierung von moralischem Verhalten. Sie plädieren für eine Zurückhaltung des Staates in Fragen der Moral, nicht weil sie der Ansicht sind, dass solche Fragen nicht von Bedeutung sind, sondern die Gesellschaft selbst die richtige Adresse, der richtige Ort und Akteur ist, um soziales Verhalten verantwortlich zu verändern.

Das Leitbild der guten Gesellschaft hält an gemeinsamen Werten fest, auch wenn darüber in einem moralischen Dialog stets gestritten werden muss.

Es ist dringend nötig,einen moralischenDialog in derGesellschaft zu führen

Für die Kommunitarier geht es nicht nur um den materiellen Reichtum einer Nation, sondern gerade auch um den spirituellen Reichtum einer Gesellschaft. Die Krise der modernen Gesellschaften ist zunehmend eine Krise des moralischen Vakuums und der moralischen Lehre, die Fundamentalisten aller Art zu füllen trachten. Die spirituelle Sehnsucht der Menschen kann nicht lange unerfüllt bleiben. Wenn sie ins Leere läuft und keine Werte findet, die aus einem gemeinsamen moralischen Dialog erwachsen, dann wird sie durch autoritäre oder gar totalitäre Angebote befriedigt werden – so wie man es in Teilen der Welt und der Gesellschaften beobachten kann. Die Demokratien werden in Zukunft, davon kann man wohl ausgehen, wachsam und erfolgreich sein, die Wiederkehr übermächtiger Regierungen zu verhindern. Wenn wir die Fundamentalismen in der islamischen Welt, in Israel, bei vielen christlichen und anderen Rechtsbewegungen in den USA und in Europa sehen, dann wird deutlich, dass in Zukunft der Demokratie und der Zivilgesellschaft Gefahren aus ganz anderen Richtugen drohen. Die Sorgen um eine Zivilgesellschaft müssen deshalb ergänzt werden durch das Nachdenken darüber, was eine gute Gesellschaft ausmacht – und zusammenhält. Wenn eine Gesellschaft ohne einige wenige gemeinsame Werte nicht auskommt, ist es dann nur das schmale Band bürgerlicher Freiheiten und Verfahren, das die Zivilgesellschaft bereithält, oder nicht vielmehr das Konzept einer „good society“, das diese Werte bereithält, einer Gesellschaft, die eine begrenzte Menge von zentralen Werten nährt, ja die sich hauptsächlich auf die Stimme der Moral verlässt und nicht auf staatlichen Zwang?

Das ist die Frage, vor der die nächste Generation steht.

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