: Am Ende des Zweiten Kalten Krieges
Die Archive der DDR sind prall gefüllt mit Materialen zu Planungen und Entscheidungen des sozialistischen Lagers. Michael Ploetz wertete sie umfassend aus, um den Untergang des sowjetischen Imperiums zu erklären
Über die Gründe für den Mauerfall und den Zusammenbruch des Sowjetimperiums wird bis heute vehement gestritten. Diese Diskussion ist häufig von Annahmen und Vorurteilen und weniger von Sachkenntnis bestimmt. Dies war so lange verständlich, wie es kaum oder gar keinen Zugang zu entscheidenden Quellen gibt. Doch das hat sich seit der Vereinigung gravierend verändert.
Inzwischen gibt es Zugang zu vielen Quellen, mit deren Hilfe man sich den tatsächlichen Ursachen der Zeitenwende annähern kann. Mit einer kleinen Einschränkung: Wegen der strengen Zugangsbeschränkungen, denen sowjetisches Archivmaterial heute noch in Russland unterliegt, stützt sich der Historiker Michael Ploetz im wesentlichen auf die zahlreichen Archive der DDR, um Planungen und Entscheidungsprozesse innerhalb des sozialistischen Lagers zu rekonstruieren. Schließlich hat der Untergang des SED-Staates für die Forschung eine beispiellose Situation geschaffen: Alle üblichen Zugangsbeschränkungen und Sperrfristen wurden aufgehoben. Der Autor konnte sowohl das Parteiarchiv der SED mit all den Dokumenten des innersten Führungszirkels als auch die Unterlagen der verschiedenen Abteilungen im ZK der SED umfassend auswerten. Fast alle noch vorhandenen Dokumente der Nationalen Volksarmee (NVA) waren ihm zugänglich. Das Bonner Verteidigungsministerium hat lediglich Dokumente der NVA-Militäraufklärung unter Verschluss genommen. Was nach diesem Eingriff zugänglich blieb, ist dennoch von hohem Quellenrang, so etwa die dienstliche Korrespondenz des DDR-Verteidigungsministers Hofmann und die Sitzungsprotokolle des Nationalen Verteidigungsrates. Unter den erhaltenen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit befinden sich zudem zahlreiche Dokumente, die das große Interesse der SED-Geheimpolizei am westeuropäischen Pazifismus belegen. Eine weitere wichtige Quelle für Michael Ploetz waren schließlich Memoiren ostdeutcher und ehemals sowjetischer Offiziere und Parteifunktionäre.
Ploetz bezeichnet den Zeitpunkt, der im Mittelpunkt seiner Darstellung liegt in Anlehnung an F. Halliday als „Zweiten Kalten Krieg“. Diese Zeit zwischen etwa 1979 und 1985 könne als ein nach beiden Seiten hin abgrenzbarer Abschnitt des Kalten Krieges aufgefasst werden, an dessen Anfang der Doppelbeschluss der Nato und an dessen Ende der Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems stehe .
Die Dokumente machen deutlich: Während im Verlauf der 80er-Jahre die strategische Parität zwischen den USA und der UdSSR durch westliche Modernisierungsprogramme in Frage gestellt wird, erkennt die Kreml-Führung, dass ihr Land ökonomisch kaum mehr in der Lage ist, die Militärausgaben aufzustocken. Erstmals sieht sich die Führung mit einer schrumpfenden Wirtschaft konfrontiert; die leicht zugänglichen Rohstoffe waren so weitgehend erschöpft, dass ein Ende des extensiven Wachstums bevorstand und damit ein Ende des bis dahin gewaltigen Ausbaus der Streitkräfte. Die Sowjets mussten nun ernsthaft zweifeln, ob sie und ihr Gesellschaftsmodell als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorgehen würden. Es sind eben diese Schwierigkeiten, die Gorbatschow dazu veranlassen, mit der kommunistischen Ideologie zu brechen. Und wegen dieser Schwierigkeiten ist er bereit, den Kalten Krieg friedlich beizulegen und so eine in der Geschichte beispiellose Umwertung zentraler ideologischer Glaubenssätze vorzunehmen.
In einem ausführlichen Abschnitt beschäftigt sich der Autor auch mit dem Westen – und zwar primär mit Strategie und Taktik des Friedenskampfes und den westlichen Friedensbewegungen, allen voran der westdeutschen. Das umfangreiche von ihm verwendete Quellenmaterial zeigt den Einfluss, den KPD und SED ausübten und zugleich, dass das Ziel des Friedenskampfes der Kommunisten nicht die Bewahrung des Friedens, sondern, wie oft spekuliert, die Wehrlosmachung des Westens war.
Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen über die SPD. Schließlich war die Distanzierung der SPD von der Nato begleitet von einer enger werdenden Kooperation mit der SED, die in Beratungen zu chemie- und atomfreien Zonen, zu einer deutsch-deutschen Sicherheitspartnerschaft und in ein gemeinsames Papier zum Streit der Ideologien mündete. Erstmals erfahren wir Einzelheiten über den Versuch Moskaus und Ost-Berlins, die Nato-Nachrüstung mit Hilfe der SPD und der Friedensbewegung zu verhindern. Zur gleichen Zeit entstanden in der in der DDR und anderen Satellitenstaaten – vor allem in Polen – Bewegungen, die gegen die Herrschaft der Kommunisten opponierten, und in den Führungseliten der UdSSR selbst wuchs die Einsicht, dass der Kalte Krieg definitiv nicht mehr zu gewinnen war.
In diesem Zusammenhang verweist Ploetz auf einen Widerspruch: „Einerseits hätte die Realisierung der neuen sozialdemokratischen Sicherheitskonzepte die Nato in einem kritischen Augenblick des Ost-West-Konflikts erheblich geschwächt, andererseits schuf aber ausgerechnet die politische und ideologische Annäherung der SPD und der Kommunisten eine konzeptionelle Brücke, über die hinweg sich Gorbatschow vom Glauben seiner Väter“ zurückziehen konnte.
Das zentrale Paradox des Zweiten Kalten Krieges ist nach Auffassung des Autors „die Tatsache, dass sowohl R. Reagan als auch die unabhängige Friedensbewegung entscheidenden Anteil am glücklichen Ende des Ost-West-Konfliktes hatten“. Diese auf den ersten Blick widersprüchlich anmutende Schlussfolgerung verweist im Grunde aber nur auf den prinzipiellen Vorteil zurück, den der pluralistische Westen im Widerstreit mit dem totalitären Osten für sich geltend machen konnte. Wenngleich die Frage nach den Ursachen für das Ende des Kalten Krieges damit nicht abschließend beantwortet ist, so gibt Michael Ploetz’ faktenreiche Analyse einen tiefen Einblick in das Dilemma und den Niedergang eines Gesellschafts- und Herrschaftsmodells. JOACHIM OERTEL
Michael Ploetz: „Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor. Von der Nachrüstung zum Mauerfall“. Propyläen Verlag 2000, 456 Seiten, 48 DM
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