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Die westlichste Stadt Polens

Schon zu DDR-Zeiten vergessen und verfallen, verliert Görlitz trotz intensiver Sanierungsanstrengungen immer mehr Einwohner. Das polnische Zgorzelec am anderen Neißeufer dagegen boomt. Beide Städte nennen sich seit zwei Jahren „Europastadt“ und planen zusammen ihre Zukunft: Die heißt Polen

von UWE RADA

Auf den Untermarkt ist Görlitz zu Recht stolz. Spätgotische und Renaissancebauten reihen sich hier nebeneinander wie sonst nur in Krakau oder Italien, und in den Bögen der Tuchhallen sowie an den prunkvollen Fassaden der Patrizierhäuser lässt sich erahnen, welche Bedeutung Görlitz einmal hatte. Einst war die Stadt an der Neiße reich geworden durch den Handel mit Waid, dem mittelalterlichen Färbestoff, der hier, auf der „Via Regia“, seinen Weg nach Osten nahm. Damals war Görlitz noch in der Mitte, heute liegt es am Rand.

Wenn am 25. August der Bundeskanzler persönlich die östlichste Stadt Deutschlands besucht, wird er sich von Oberbürgermeister Rolf Karbaum sicher nicht nur die Baudenkmäler einer einst bedeutenden Handelsstadt zeigen lassen. Gerhard Schröder wird auch erfahren, dass es in Görlitz wieder einmal höchste Zeit ist. Wie schon in den Tagen der Wende von 1989, als bereits die Sprenglöcher gebohrt waren und der Stadt ein ähnliches Schicksal drohte wie manch anderen mittelalterlichen Stadtanlagen der DDR, steht Ostdeutschlands wohl schönste Stadt auch heute vor dem Ende.

Billigdiscounter galore

Nun allerdings droht Görlitz nicht der Flächenabriss, sondern flächendeckende Missachtung. Blinde Fenster hinter frisch renovierten Stuckfassaden oder leer stehende Geschäfte hinter modernen Schaufenstern verleihen der „Perle der Oberlausitz“ die Atmosphäre einer Geisterstadt. 17.000 Einwohner hat Görlitz seit der Wende verloren, die Einwohnerzahl ist von 100.000 in der Vorkriegszeit auf nunmehr 61.000 gesunken. In der Altstadt, rund um den Untermarkt, wohnen sogar nur noch 1.800 Menschen. 5.000 Wohnungen dagegen stehen hier leer, trotz der immensen Sanierungsanstrengungen, die die Stadt seit 1989 unternommen hat.

Selbst im gründerzeitlichen Görlitz, dem Geschäftszentrum der Jahrhundertwende, stehen alle Zeichen auf Niedergang. In der Berliner Straße, einer Fußgängerzone, die den Bahnhof mit dem Postplatz, dem Tor zur Altstadt verbindet, steht jedes zweite Geschäft leer. In den anderen bieten Billigdiscounter vornehmlich Ramsch und Billigklamotten an. Trotz der teilweise geräumigen, einst herrschaftlichen Wohnungen kehren auch hier die Görlitzer ihrer Stadt den Rücken. Auf 40 bis 50 Prozent schätzt Thorsten Berndt von der Sanierungsgesellschaft Görlitz den Leerstand.

Der Görlitzer Aufruf

Weil es Görlitz nicht nur an zahlungskräftigen Bewohnern mangelt, sondern auch an sanierungsfreudigen Investoren, steht selbst die Abrissbirne wieder auf der Tagesordnung. In der Bautzener Straße traf es bereits zwei Gebäude aus der Jahrhundertwende, weitere sollen folgen.

Grund genug für Rolf Karbaum, Alarm zu schlagen. Zusammen mit der Stadtverwaltung, dem Aktionskreis Görlitz und einigen Prominenten hat der parteilose Oberbürgermeister einen Appell verfasst. „Wir rufen unsere Landsleute in ganz Deutschland auf, unsere Stadt zu besuchen. Kommen Sie nach Görlitz!“, heißt es in einem kurz vor dem Schröder-Besuch veröffentlichten „Görlitzer Aufruf“, der deutlich macht, dass es die Stadt, in der fast jeder vierte arbeitslos ist, aus eigener Kraft nicht mehr schafft. Wo anderenorts die Investoren mit Superlativen gelockt werden, spricht aus den Initiatoren des Aufrufes fast schon die Verzweiflung, wenn sie vom Kanzler und dem Rest der Republik fordern: „Görlitz braucht mehr Einwohner, mehr Arbeitsplätze, mehr Touristen!“

Verlieren sich in der Görlitzer Altstadt an manchen Tagen nur einige Bettler sowie kleine Grüppchen von Heimattouristen, die hier ihre Tour nach Schlesien beginnen, brummt auf der anderen Seite der Neiße das Leben. Zgorzelec, die ehemalige Vorstadt von Görlitz, boomt. Auf den Straßen der Lärm von Autos, dazwischen Menschen auf dem Weg zur oder von der Arbeit, zum Einkauf, geschäftig oder geschwätzig. Vor den Geschäften unzählige Schilder, Auslagen, Werbetafeln – Urbanität, hinter der die Architektur zurücktritt. Zgorzelec ist eine polnische Stadt. Nur auf den ersten Blick wirkt der Kontrast zwischen der verlassenen Görlitzer Altstadt und dem Trubel auf der anderen Seite der Neiße wie eine Verkehrung der europäischen Verhältnisse: auf der Wohlstandsseite der Europäischen Union urbane Agonie, auf der anderen kreatives Chaos. In Wirklichkeit freilich zeigt sich im Spannungsfeld zwischen Görlitz und Zgorzelec das künftige Europa jenseits aller Hoffnungen und Sonntagsreden: hier Schrumpfung auf vergleichsweise hohem, dort Wachstum auf niedrigem Niveau.

„Sollte die Grenze zwischen Görlitz und Zgorzelec in den nächsten Jahren fallen“, sagt Christiane Binscheck von der Görlitzer Wirtschaftsförderung, „dann wird es hier ähnlich zugehen wie nach dem Fall der Mauer in Berlin.“ Nur dass die Zukunft dann eher bei denen liegt, die es gelernt haben, unter den Bedingungen eines Provisoriums zu leben. Anders als beim Beitritt der DDR zur Bundesrepublik winkt beim Fall der europäischen Mauer kein Versprechen blühender Landschaften, sondern der Konkurrenzkampf im osteuropäischen Mezzogiorno. Anders als viele andere Grenzstädte an der Oder oder der Neiße blickt Görlitz der Realität ins Auge. Vor zwei Jahren schlossen sich Görlitz und Zgorzelec zur „Europastadt“ zusammen und mittlerweile hat sich eine Kultur der Normalität in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit entwickelt. Längst ist eine grenzüberschreitende Stadtbuslinie eingerichtet, in Zgorzelec freut man sich auf die deutsche, in Görlitz auf die polnische Kundschaft. „Zakupy w Görlitz“ – „Einkaufen in Görlitz“ heißt eine polnische Broschüre, initiiert vom Aktionsring Handel Görlitz, die die wichtigsten Geschäfte der Altstadt vorstellt.

An manchen Schaufenstern ist zu lesen, dass auf Polnisch bedient wird, und im von Karstadt betriebenen ehemaligen Jugendstilkaufhaus am Marienplatz, sind sämtliche Hinweisschilder zweisprachig, ebenso wie die Programmhefte des Görlitzer Theaters oder des im September stattfindenden Tag des offenen Denkmals. Trotz des Hilferufes an die deutschen „Landsleute“ hat Görlitz die Flucht nach vorne, in den Osten angetreten. Für den Sanierungsexperten Thorsten Berndt liegt im EU-Beitritt Polens und der Öffnung der Grenze sogar die einzige Chance auf eine „Entspannung“ des Görlitzer Leerstandsmarktes. Dazu müsste der Zuzug aus Polen aber mehrere tausend Menschen umfassen, so Berndt.

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Im deutsch-polnischen „Brückenschlagen“ gibt es auch Rückschläge. Zwar ist die Finanzierung des Wiederaufbaus der 1945 gesprengten Altstadtbrücke, die das westliche Neißeufer nahe der Petrikirche mit der ulica Wrocławska auf der polnischen Seite verbinden soll, längst gesichert. Allein die polnischen Behörden ließen es bislang am nötigen Engagement fehlen. Mehr noch: Immer wieder wurde die Genehmigung dieser zweiten Brückenverbindung über die Neiße an Forderungen geknüpft, mehr polnische Kontingentarbeiter in Deutschland zuzulassen. Offenbar, so scheint es, brauchen die Deutschen in der Europastadt die Polen nötiger als die Polen die Deutschen.

In der Tat: Zgorzelec wächst auch ohne deutsche Beihilfe. Während in Görlitz im nächsten Jahrzehnt nochmals mit einem Rückgang der Bevölkerung um 10.000 gerechnet wird, ist die Einwohnerzahl auf der polnischen Seite in den letzten Jahren auf fast 40.000 gestiegen. Zgorzelec, so weiß es Sanierungsexperte Berndt, „hat die bessere Sozialstruktur“. Vor allem junge, gut ausgebildete Menschen sind es, die es an die polnische Westgrenze zieht. Über 40 Prozent der Bevölkerung hat das 29. Lebensjahr noch nicht überschritten. Die Arbeitslosenquote ist in der vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken und liegt heute bei unter zehn Prozent.

Alle Löcher vermietet

Leerstand, das größte Problem von Görlitz, ist in Zgorzelec ein Fremdwort, mittlerweile ist sogar „das letzte Loch vermietet“, wie es Christiane Binscheck von der Görlitzer Wirtschaftsförderung formuliert. Anders als in den Grenzstädten Frankfurt (Oder) und Słubice oder in Guben und Gubin hat die Wohlstandsgrenze der Festung Europa in Görlitz/Zgorzelec schon vor dem EU-Beitritt Polens nur noch symbolischen Charakter.

Wenn Oberbürgermeister Rolf Karbaum am Freitag den Bundeskanzler durch seine Stadt führt, wird er einige Mühe haben, seinen „Görlitzer Aufruf“ plausibel vorzutragen. Warum sollten ausgerechnet die deutschen „Landsleute“ in die Neißestadt kommen, wo doch die meisten Görlitzer ihre Stadt in Richtung Westen verlassen haben? Vielleicht wird ihm aber auch sein Kollege Mierosław Fiedorowicz aus Zgorzelec zur Seite stehen. Denn Görlitz ist schon heute, lange bevor es mit der EU-Osterweiterung wieder vom Rand in die Mitte rücken wird, nicht länger die „östlichste Stadt Deutschlands“, sondern die westlichste Stadt Polens.

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