Die Ausnahme des Widerstands

Im Kampf gegen den Rechtsextremismus heiligt der gute Zweck nicht alle Mittel. Die Demokratie muss sich im Notfall schützen, aber sie darf darüber nicht selbst zum autoritären Staat werden. Das ist ein Balanceakt, der sich immer schwieriger gestaltet

Ein NPD-Verbot nutzt nicht viel: Organisationen lassen sich verbieten, politische Gesinnungen aber nicht

von STEFFEN KAILITZ

„Kampf den Nazis!“, schreit es dem Leser am 17. August nicht aus einem antifaschistischen Szeneblatt, sondern vom Titel der Zeit entgegen. Der Staat, so Toralf Staud, sei in den letzten Jahren zurückgewichen, nun müsse er das verlorene Terrain „zurückerobern“. „Null Toleranz“ gegenüber Rechtsextremisten wird von ihm eingefordert. Die Schwelle zur gefährlichen Hysterie überschreitet die Zeit in der Rubrik „Leben“. Auf die Blockwart-Frage „Mein Nachbar hört Marschmusik und hat ein verdächtiges Tattoo. Soll ich ihn anzeigen?“, antwortet ein Justiziar der Berliner Polizei ohne einen Anflug von Ironie: „Man sollte alles melden, was einem seltsam vorkommt. Am besten verlässt man sich auf sein Gefühl; man braucht ja keine Angst zu haben vor einer Falschaussage. Die Polizei ist dankbar dafür.“ Man braucht die Frage nur leicht zu verändern, um zu bemerken, wie nah sie dem bekämpften Weltbild ist: „Mein Nachbar hört türkische Volksmusik und hat einen verdächtigen Schnurrbart. Soll ich ihn anzeigen?“

Würde die Demokratie den Kampf gegen ihre Gegner mit allen Mitteln führen, verletzte sie die Prinzipien, die sie eigentlich verteidigen will. Der Zweck heiligt nämlich nicht die Mittel. Das demokratische „Paradoxon der Toleranz“ (Karl Popper) besteht wiederum darin, dass die uneingeschränkte Toleranz gegenüber Demokratiegegnern zum Verschwinden der Toleranz führt, wenn diese an die Macht gelangen. Angesichts der Erfahrungen der „Weimarer Republik“, die dem Weg der Nationalsozialisten an die Macht nichts entgegenzusetzen wusste, etablierte der Parlamentarische Rat zahlreiche Vorkehrungen, um die Demokratie im Notfall gegen ihre Feinde zu schützen. Die Parole der streitbaren Demokratie lautet jedoch nicht „Null Toleranz“ gegenüber Extremisten, sondern: „So viel Toleranz wie möglich, so viel Demokratieschutz wie nötig“. Der Schutzschirm wölbt sich über die Grundpfeiler der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, vor allem über die Menschenrechte, die Unabhängigkeit der Justiz, den gesellschaftlichen Pluralismus, das Mehrparteienprinzip und das Recht auf Opposition gegen die Regierung.

Nun kann sich die streitbare Demokratie ihren Gegnern nicht erst dann entgegenstellen, wenn sie Gesetze übertreten, sondern bereits wenn sie mit ihren Vorstellungen auf die Abschaffung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zielen. So sind im Grundgesetz die Möglichkeit des Verbots von verfassungsfeindlichen Vereinen (Art. 9, Abs. 2 GG) und Parteien (Art. 21, Abs. 2 GG) sowie der teilweisen Aberkennung der Grundrechte von verfassungsfeindlichen Personen (Art. 18 GG) verankert. Vereinigungen können durch die Innenministerien des Bundes und der Länder verboten werden, bei Parteien gestaltet sich das Verfahren weit schwieriger. Während andere Demokratien nicht zwischen Parteien und sonstigen Vereinigungen unterscheiden, genießen Parteien in Deutschland ein „Parteienprivileg“ und können nur durch das Bundesverfassungsgericht verboten werden. Weiterhin kann der Bundespräsident – inkonsequenterweise nicht aber der Bundeskanzler – nach Art. 61 GG „wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes“ vor dem Bundesverfassungsgericht angeklagt werden.

Die streitbare Demokratie ist kein autoritäres Bollwerk des Staates zur Einschüchterung seiner Bürger. Die Instrumente zielen überwiegend nicht gegen den Einzelnen an der Basis der Gesellschaft, also gegen „unten“, sondern gegen Parteien und Gruppierungen, auch dann, wenn sie „oben“ die Schaltzentralen der Macht besetzen. So ist in Art. 20 Abs. 4 GG ein Widerstandsrecht aller Deutschen gegen extremistische Machthaber verankert, die den Bürgern keine Möglichkeit mehr bieten, sie friedlich aus dem Amt zu vertreiben. Die Ausnahme ist das höchst problematische Instrument der Grundrechtsverwirkung. Es ist weder sonderlich demokratisch noch rechtsstaatlich, einem Bürger, sei er auch Extremist, die Grundrechte aberkennen zu wollen. Art. 18 sollte gestrichen werden. In der Praxis hat der „Papiertiger“ glücklicherweise keinen Schaden angerichtet. Bisher wurden durch die Bundesregierung vier – erfolglose – Anträge auf die Aberkennung von Grundrechten beim Bundesverfassungsgericht gestellt: 1952 gegen den Rechtsextremisten Otto Ernst Remer, 1969 gegen den Herausgeber der Deutschen Nationalzeitung und späteren DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey, 1992 gegen Thomas Dienel, den Vorsitzenden der neonationalsozialistischen Splittervereinigung „Deutsch-Nationale Partei“ und gegen Hemann Reisz, den hessischen Landesvorsitzenden der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“.

Größere Bedeutung in der Praxis hatten die Instrumente der Parteien- und Vereinigungsverbote. Beide Parteienverbote fallen in das erste Jahrzehnt der bundesrepublikanischen Geschichte: Die rechtsextremistische „Sozialistische Reichspartei“ wurde 1952, die linksextremistische KPD 1956 verboten. Bis zur Verabschiedung des Vereinsgesetzes 1964 wurde auch das demokratische „Schutzschild“ des Vereinigungsverbots häufig genutzt. Vom Bannstrahl des Staates wurden 119 links- und 24 rechtsextremistische Gruppierungen getroffen. Das Ausmaß der staatlichen Restriktionen gegen extremistische Kleinstgruppen war kein Ruhmesblatt – besonders der staatliche Umgang mit Kommunisten in der Hochphase des Kalten Krieges erscheint aus heutiger Sicht bedenklich.

In den Anfangsjahren der Republik herrschte noch die Ansicht vor, sobald die Kriterien für ein Verbot erfüllt seien, müsste dieses auch erfolgen. In den Sechzigerjahren gewann dagegen das Argument Oberwasser, bei einer Erfüllung der Kriterien müsse nicht zwangsläufig ein Verbot beantragt werden, sondern nur wenn dies aufgrund der Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaats notwendig sei. Zwischen 1964 und 1990 wurden lediglich 13 Vereinigungen und keine Partei verboten. Wurde die Liberalität durch den sparsamen Einsatz gestärkt, so litt darunter die rechtsstaatliche Transparenz. Nicht immer ist klar, warum eine Vereinigung verboten wird, eine andere, politisch benachbarte dagegen nicht.

Nach dem rechtsextremistisch motivierten Mordanschlag von Mölln im November 1992 wurden die „Waffen“ der streitbaren Demokratie aus dem Schrank geholt, um der Welle fremdenfeindlicher Gewalttaten Einhalt zu gebieten. 1993 wurden beim Bundesverfassungsgericht Verbotsanträge gegen die neonationalsozialistische „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP) mit ihrem Führer Friedhelm Busse wie gegen die gleich gesinnte „Nationale Liste“ (NL) Christian Worchs gestellt. Karlsruhe erklärte sich aber im Februar 1995 für nicht zuständig, weil weder FAP noch NL Parteien im Sinne des Parteiengesetzes seien. FAP und NL wurden in der Folge vom Bundesinnenminister zusammen mit einer Reihe weiterer rechtsextremistischer Vereinigungen verboten.

Derzeit ertönen allerorten Rufe nach einem Verbot der NPD. Zur Zurückhaltung mahnt fast nur, wer glaubt, ein Verbotsantrag gegen die Partei habe vor den Bundesverfassungsrichtern wenig Aussicht auf Erfolg. Zu Recht wird angeführt, dass keineswegs jede extremistische Partei verboten werden kann, sondern nur solche, die eine aktiv kämpferische Haltung gegen das Grundgesetz zeigen. Die NPD erfüllt jedoch dieses harte Kriterium. Seit Jahren paktieren vor allem die „Jungen Nationaldemokraten“ offen mit dem neonationalsozialistischen Spektrum. Inzwischen lesen sich auch die Rednerlisten der Veranstaltungen der Mutterpartei wie ein „Wer ist Wer“ des deutschen Neonationalsozialismus. Im Umfeld der NPD tummeln sich u.a. die mehrfach vorbestraften „Führer“ Friedhelm Busse, Manfred Roeder und Christian Worch.

Ein Verbot ist demnach möglich und im Zuge der Vereinigungsverbote der letzten Jahre auch konsequent. Aber wäre es wirkungsvoll? Die NPD ist eine Splitterpartei, die gesellschaftlich isoliert ist. Die revolutionäre Propaganda einiger Parteifunktionäre ist kaum mehr als geschwätzige Phantasterei. Um Wahlerfolge der Partei zu verhindern, genügt es, deren neonationalsozialistische Orientierung publik zu machen. Den rechtsextremistischen Gewalttaten ist durch ein Verbot der NPD kein Riegel vorgeschoben, sie gehen überwiegend aus einer organisatorisch nicht verfestigten rechtsextremistischen Subkultur hervor. Ein Verbot der NPD schadet im Kampf gegen den politischen Extremismus nicht, aber es nutzt auch nicht viel. Organisationen lassen sich verbieten, politische Gesinnungen nicht.

Der beste Demokratieschutz ist nicht die staatliche Repression von Extremisten, sondern die Bekämpfung der Ursachen dieses Extremismus. Dazu gehört in erster Linie eine erfolgreiche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Der Extremismus ist ein normaler Auswuchs des politischen Lebens im demokratischen Verfassungsstaat. Unsere Demokratie wird auch weiter mit einem bestimmten Maß an politischem Extremismus leben müssen. Nur um den Preis des Demokratischseins könnten Demokraten extremistisches Denken und Handeln vollständig unterdrücken.