: Kein Daumen im Wind, nirgends
Nur noch selten steht heute ein Tramper am Straßenrand. Und wenn doch einer an der Autobahnauffahrt wartet, dann schaut womöglich ein Kind aus einem vorbeifahrenden Wagen und wundert sich, was der wohl will. Vater schweigt. „Das ist einer, der kein Geld hat“, sagt Mutter. Ein Essay zum Abschied von einer literarisch beglaubigten Reiseform nebst einiger Portraits, eingefangen in Berlin-Dreilinden
von BJÖRN KERN
Lohnt es sich überhaupt zu trauern? Steht halt keiner mehr an den Straßen, um gratis mitgenommen zu werden. Nicht an Autobahnauffahrten, nicht an Raststättentankstellen.
Jeder hat sein eigenes Problem mit dem unverhofften Tod dieser Art von Verkehrsteilnehmern. Die Bilderpresse kann nicht mehr auf dauervergewaltigende Mitfahrer hetzen, und Erziehungsberechtigte haben nachts eine Sorge weniger. Am katastrophalsten jedoch sind die Auswirkungen auf die Nachgeborenen. Denn die müssen heute dauernd das Funkeln in den Augen ertragen, wenn die Tramper von einst ins Erzählen kommen.
Dann laufen sie so richtig warm. Ja, ich weiß noch, wie du 75 im Blümchenkleid an der Ausfahrt standest, obwohl du auch mit dem Rad in die Disko hättest fahren können. Der Typ, der an deinen Knien herumgefummelt hat und dem Lkw nicht mehr ausweichen konnte. Wie ihr im Gebüsch gelandet seid und du einfach davongerannt bist.
Oder die hier, ja, ich weiß schon, im Sommer 77. Die wilde Zeit wurde schon ein wenig bleiern, aber du wartetest immer noch auf den Straßen herum. Und nachdem du von Hamburg bis München mit diesem Typen geredet hattest, bist du sogar Buddha begegnet, so im übertragenen Sinne natürlich, mitten im Gespräch. Du machtest das Trampen zur Pilgerreise und tramptest zu dir selbst. Wow!
Die Siebzigerjahre nerven prächtig mit ihrem zelebrierten Kultgefunkel. Nichts, was sich nicht ideologisch überhöhen ließe, selbst Armut wird zur Tugend. Da fasziniert vor allem eines: Es kann damals keine armen Leute gegeben haben! Denn nicht etwa aus Not machten sich die Hippies von gestern und Eltern von heute ans Trampen. Klar, jeder hätte sich spielend eine ganze Flotte eigener Wagen leisten können – stattdessen wollten sie lieber eine eigene Weltanschauung. Und mit der fuhren sie noch viel besser.
Wer’s glaubt, ist selber schuld. Die Tramper waren in Wirklichkeit perfekte Marketingstrategen. Die Existenzialisten des Straßenverkehrs, sozusagen. Die echten aus den Fünfzigerjahren zogen schwarze Rollis an und sagten, das sei ihre Religion – dabei waren die Rollis nur billig und sahen nicht so schnell schmutzig aus. Die späteren Exis, die heutigen Eltern, fuhren in die weite Welt, mal mit, mal ohne Ziel, und fanden das wunderbar – dabei hatten sie nur kein Geld für den Zug.
So erfolgreich waren die beim Kultschaffen, dass das Wort Trampen auch heute noch nach Jointstummeln riecht, die auf Rastalocken ausgedrückt wurden – selbst wenn die älter gewordenen Tramper längst im Sakko dastehen. Tausende von Jungen und Junggebliebenen rauchten am Straßenrand, quatschten und formten nebenher, was es heute nicht mehr gibt. Und vielleicht nie gab: die Tramperkultur.
Was das sein soll, weiß heute nur noch, wer damals schon dabei war. Gemessen an der Zahl der Abenteuergeschichten, die darüber kursieren, muss es jedenfalls eine grandiose Zeit gewesen sein. Zauberwörter wie Marihuana, Sex und Freiheit geistern da herum. Tramper waren ständig auf der Suche nach einem intensiven, lustbetonten Leben, jenseits von Konsum und Selbstgenügsamkeit der Nachkriegszeit.
Bereits Ende der Fünfzigerjahre hatte Jack Kerouac den Hippies eine steile Startvorlage in Sachen Tramperkultur geliefert: Sein Buch mit dem programmatischen Titel „On the road“ mauserte sich binnen Kürze zu der Lektüre einer ganzen Generation. Die damals noch jungen Herrschaften verschlangen gierig die Erzählungen von Sal Paradise und Dean Moriarty und fühlten sich endlich verstanden: wenn Kerouac von kicks schrieb, mystischen Momenten der Ekstase, und von diggins, dem spontanen Verstehen eines anderen.
Nicht das Statussymbol, sondern der Mensch stand endlich im Mittelpunkt, das hat ihnen gefallen, damals. „Der“ Tramper war offen für neue Kontakte, neugierig auf andere und suchte das Abenteuer. Er wagte etwas, probierte die Welt aus – und so nebenbei auch sich selbst. Gesprächspartner war, wen das Schicksal präsentierte: Arme und Reiche, Gammler und Verrückte, Begehrenswerte und Unangenehme.
Wie romantisch? Wenn sich einer den Lift vor der Nase wegschnappen ließ, grüßte er nur freundlich und machte sich’s auf seinem Meditationsteppich bequem. Ohne Zorn natürlich, ganz solidarisch und fern allen Konkurrenzdenkens – kein Daumen mutierte da zum Mittelfinger.
Wer sich heute noch an die Straße stellt, ist wenigstens ehrlich. Sagt, dass er umsonst von da nach dort kommen will. Denn kein Geld zu haben ist verdammt ärgerlich, aber wirklich kein Grund, daraus eine Religion zu machen. Leider spielen die Dinosaurier der Siebzigerjahre nicht mit. Denn vor lauter Angeberei über ihre alten Zeiten vergessen sie allzu leicht, selbst mal jemanden mitzunehmen. Und die spärlichen neuen Tramper stehen sich die Beine in den Bauch. Dabei hatte Kerouac so schön gesagt: „Was für eine Straße ist die deine, Mann? – Die des Heiligen, des Wahnsinnnigen, des Regenbogens, des Guppy, irgendeine. Ist sowieso eine einzige Straße für jeden, überallhin.“
Heute führt die Straße längst nicht mehr überallhin. Nur noch fürs Ziel machen sich die Herrschaften auf den Weg: zum Arbeitsplatz, zum Eigenheim, zum Sportverein. Anhalter sind da plötzlich nervende Vielquassler. Und so stehen die Tramper immer noch . . .
Wo „Goldene Tramperregeln“ im Internet vor allem „Sauberkeit“ zum Muss des Trampers küren, gibt es heute eben nur noch „Trampen light“: bei den Mitfahrzentralen. Trampen als Kaffeefahrt sozusagen. Die Goldgräberstimmung der Siebziger ist passé.
Wer am Ball bleiben will, muss sich schon was Zeitgemäßes ausdenken: In Berlin etwa wartet die „Mitfahrt 2000“ mit einem ganz neuen Konzept auf. Die Telefonnummer des Fahrers bleibt hier geheim, und 24 Stunden vor Fahrtbeginn wird ein Deal nach den „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ verbindlich. Zuverlässigkeit, Sicherheit, Planbarkeit: Schon diese Stichworte machen deutlich, dass vom Abenteuer eines blind dates heute keiner mehr etwas wissen will.
Ist auch gar nicht schade drum. Wichtig ist im Grunde doch nur, dass Lifestyle-Yuppies das Mitfahren nicht generell ins Lächerliche ziehen und als gestrig abstempeln. Nur weil sie sich die besseren Autos leisten können. Wie und wo mitgefahren wird, ist nämlich völlig egal. Aber dass mitgefahren wird, ist heute wichtiger denn je. Bei übels- ten Luftqualitäten in den Großstädten und einem drohendem Verkehrsinfarkt ist eben nur ein stehendes Auto ein gutes Auto. Und mit jedem Tramper mehr bleibt auch ein Auto mehr in der Garage.
BJÖRN KERN, 22, Hospitant im taz.mag, studiert in Tübingen und Aix-en-Provence Literatur und Romanistik. Im kommenden Jahr erscheint sein erster Roman bei Hanser/dtv. Dreimal hat er selbst den Daumen ausgestreckt, vorwiegend in der Provence. Jack Kerouacs schon in den Fünfzigerjahren verfasster Roman „Unterwegs“ (Rowohlt, Reinbek 2000, 380 Seiten, 16,90 Mark) inspirierte ihn zu dieser Geschichte über das Trampen
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