: Mehr als hübsche Märchen
Warum eine linke Tageszeitung das Blatt der Zukunft sein muss. Weshalb sie ironisch sein darf aber im entscheidenden Moment ernst sein muss. Weshalb New Economy nicht nur ein Erfolgsrezept ist
Warum es weiterhin eine linke Tageszeitung geben muss? Du meine Güte! In der Frage steckt doch schon die Gegenfrage: Warum keine linke Tageszeitung, ausgerechnet jetzt? Wenn „links“ zu sein bedeutet, ein besonderes Augenmerk auf Machtverhältnisse zu haben, dann hat die taz Zukunft. Und sie braucht gegenwärtig vielleicht etwas weniger Vergangenheit und etwas mehr Zukunft. Wer künftig „links“ sein will, muss sich selbst verändern können. Die taz hat also gleich mehrere Aufgaben – und welches Blatt kann das noch von sich behaupten?
Früher konnten sich die linken Medien enger an die Parteien und Institutionen halten: Über die Gewerkschaften, die Grünen und deren politische Entwürfe und Visionen wurde ausführlich berichtet. Die Visionen sind trübe geworden. Heute muss man sich von den Parteien und Verbänden lösen, um Machtverhältnisse aufzudecken und zu zerpflücken.
Mit der Macht verhält es sich wie mit dem Schmutz im Haushalt: Durch Putzen verschwindet Schmutz nicht, sondern ändert nur den Ort und die Erscheinungsform. Die Diskurse der Macht und des Geldes kommen heute unwiderlegbarer, verteilter, unauffälliger daher. Doch die Sehnsucht nach Subversion der Machtverhältnisse, der Wunsch, dass alles doch anders sein könnte, als es scheint, dieses Gefühl ist stark wie eh und je. Künftig wird es noch stärker werden.
Denn die Homogenisierung der öffentlichen Debatten hat sich verstärkt. Der Konkurrenzkampf der Medien hat nicht zu mehr Vielfalt, sondern zu mehr Einfalt geführt. Ein Beispiel ist die Wirtschaftsberichterstattung. Stichwort: „Neue Ökonomie“. Begeistert werden allerorten junge Existenzgründer in Internet-Unternehmen gefeiert. Die Neuökonomen ackern angeblich rund um die Uhr, grillen noch spätabends gemeinsam mit den Firmenkollegen auf der Dachterrasse und sind überhaupt eine tolle Familie. Das sind hübsche Märchen.
Eine linke Tageszeitung muss mit diesen Mythen spielen – und im entscheidenden Moment dann doch ziemlich ernst werden: Welche Folgen hat eigentlich Selbstausbeutung, zum Beispiel für den Solidaritätsgedanken? Warum kommen fünfundvierzigjährige Umschüler in den Märchen nicht vor? Wieso sind unter den „100 führenden Köpfen“ der Neuen Ökonomie nur fünf Frauen zu finden? Warum werden immer mehr ausländische Jugendliche ökonomisch abgehängt? Wie lässt sich ein Leben mit Kindern planen, wenn die berufliche Zukunft wenig abschätzbar ist? Was ist der Preis der „neuen Flexibilität“, wer zahlt und wer profitiert? Eine linke Tageszeitung muss der symbolischen Gewalt begegnen, nach der nichts anderes mehr möglich ist als das, was wirtschaftlich erfolgreich zu sein verspricht.
Sie muss vorgehen gegen die heimlichen Gebote der Mediengesellschaft: Du darfst nicht langweilen! Sei nett zu den LeserInnen! Die „unterdrückten“ Nachrichten von heute sind jene, von denen man glaubt, sie könnten die Leser langweilen oder deren Abwehr erregen. Eine linke Tageszeitung muss nicht nur provozieren (und Abo-Kündigungen riskieren), sondern auch Langeweile, Peinlichkeit, sogar Kitsch wagen. Ganz schön anstrengend. Aber dafür nicht ohne Überraschungen.
Die taz hat immer die Avantgarde spielen müssen. Die taz schrieb früher am ausführlichsten über ökologische Bewegungen – die anderen Zeitungen übernahmen dies, als sich Umweltbewusstsein in der Bevölkerung durchsetzte. Die taz entwickelte eine neue Form des ironischen Journalismus – die anderen Zeitungen klauten den Stil der Schlag- und Bildzeilen, als der „Fun-Faktor“ gesellschaftsfähig wurde.
Jetzt muss die Zeitung wieder vorangehen, vielleicht mit neuen journalistischen Formen, etwa biografischen Texten, Milieuschilderungen, einem „neuen Realismus“, der ganz unaufgeregt sich den LeserInnen zur Verfügung stellt. Zu erzählen wäre von der Verkäuferin, die sich arbeitslos meldet, weil sie nur dann als Härtefall den Zahnersatz subventioniert bekommt. Zu beschreiben wäre der persönliche Wertewandel, der einsetzt, wenn Transportunternehmer, Einzelhändler, Architekten als „kleine Selbstständige“ immer härter um die eigene Existenz kämpfen müssen. Wo genau fängt die Kette der Entsolidarisierung an?
„Die Avantgarde ist immer vorn. Und wenn wir hinten sind, dann ist hinten vorn“ – der alte Sponti-Spruch gilt exklusiv für die taz. Die ja letztlich nichts anderes ist als ein Wunderwerk, das sich durch nichts anderes als den romantischen Überschuss in den Köpfen der Macher und LeserInnen am Leben erhält. Dazu gehören Konsumverzicht oder private Subventionierungen der Redakteure – und nicht zu vergessen eine Engelsgeduld der LeserInnen, wenn eine Ausgabe auf Grund chronischer Überforderung und Erschöpfung ärgerlich schlecht geworden ist.
Eine große deutsche überregionale Zeitung machte vergangenes Jahr 100 Millionen Mark Verlust. Eine neu gegründete Finanzzeitung in Deutschland brachte es in wenigen Monaten auf 70 Millionen Mark Verlust. Diese von großen Verlagen geführten Blätter bleiben vorerst am Markt. Die taz käme mit ZEHN Prozent der Verlustsumme des Finanzblattes fürs erste über die Runden. Das Geld ist nicht da. Das ist freie Marktwirtschaft. Noch weitere Fragen?
BARBARA DRIBBUSCH
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