Die Wirkung symbolischer Taten

Das Aufsehen und der Grad an Entsetzen, den eine Tat hervorruft, sagen oft mehr über die Verhältnisse in einem Land aus als die Tat selbst

BERLIN taz ■ „Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen in Deutschland“, sagte Gerhard Schröder. „Wegschauen ist nicht mehr erlaubt.“ Er wollte selbst ein Zeichen setzen, um zum Kampf gegen den Rechtsextremismus aufzurufen. Demonstrativ besuchte der Bundeskanzler gestern die Synagoge in Düsseldorf, auf die in der Nacht zum Dienstag ein Brandanschlag verübt worden war. Ein „abscheuliches, hinterhältiges Verbrechen“, nannte Schröder die Tat.

Recht hat er. Es ist nicht das einzige seiner Art. Fast zeitgleich mit dem Anschlag in Düsseldorf wurden Hakenkreuze auf Grabsteine des jüdischen Friedhofs in Schwäbisch Hall und auf Gedenktafeln im ehemaligen KZ Buchenwald geschmiert. Taten von hohem symbolischen Gehalt: Anschläge gegen jüdische Einrichtungen in der Bundesrepublik stehen niemals für sich allein. Stets erinnern sie an die schrecklichen Verbrechen, die Deutsche an Juden in der Vergangenheit verübt haben. Deshalb wiegen Hakenkreuze auf jüdischen Grabsteine und Brandsätze gegen Synagogen schwerer als jede andere Form der Sachbeschädigung. Dennoch handelt es sich in diesen Fällen – nur – um Sachbeschädigung. Nicht einmal zwei Wochen ist es her, dass in Düsseldorf 15 bis 20 Deutsche auf einen Landsmann mit schwarzer Hautfarbe eingeschlagen haben. Er hatte niemanden provoziert. Zufällig war er an der Gruppe vorbeigeradelt. Pech. Das ist keine Schlagzeile, das ist eine Kurzmeldung. In derselben Nacht wurden ein paar Kilometer weiter in Wuppertal zwei Molotowcocktails gegen ein Haus geschleudert, in dem Ausländer wohnen. Einer fiel in ein Kinderzimmer und setzte eine Matratze in Brand. Zwei Kinder aus dem Kosovo erlitten einen schweren Schock. Kein Staatsmann hat sie getröstet.

Keine Gesellschaft dieser Welt kommt ohne eine Rangfolge von Opfern aus, mag sie sich auch noch so ehrlich darum bemühen. Der Grad an Entsetzen, den eine Tat hervorruft, sagt oft mehr über die Verhältnisse in einem Land aus als die Tat selbst. „Polizistenmord ist das schwerste Verbrechen überhaupt“, sagte der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann, als im November 1987 zwei Polizeibeamte durch Demonstranten gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen getötet worden waren. Heute klingt der Satz absurd. Was könnte jetzt an die Stelle des Wortes „Polizistenmord“ treten? Kindermord? Mord an Angehörigen einer ethnischen Minderheit? Mord an einem jüdischen Mitbürger? Priestermord? Politikermord?

Alle Beteiligten – Täter, Opfer und Politiker – wissen um die symbolische Bedeutung antisemitischer Aktionen ebenso wie um den Symbolgehalt rassistischer Übergriffe. Wer eine solche Tat verübt, will Aufsehen erregen. Er wird nicht von der Wirkung überrascht. Im Gegenteil: Der Wunsch, diese Wirkung zu erzeugen, ist das eigentliche Motiv hinter der Tat. Was sagt es über die deutsche Werteskala aus, wenn Sachbeschädigung gegen jüdische Einrichtungen größeres Entsetzen hervorruft als Körperverletzung, Totschlag und Mord an Angehörigen ethnischer Minderheiten?

Ist diese Frage überhaupt erlaubt? Wird damit nicht der Antisemitismus in unerträglicher Weise relativiert? Nein, das wird er nicht. Wenn in Deutschland eine jüdisches Gotteshaus brennt, dann dürfen Politiker dazu nicht schweigen.

Aber es hat mehr als zwei Monate gedauert, bis Bundeskanzler Schröder dem in Dessau ermordeten Mosambikaner Alberto Adriano die Ehre erwies. Tut man dem Kanzler unrecht, wenn man unterstellt, dass die Kranzniederlegung nicht erfolgt wäre, hätte sich nicht der Rechtsextremismus als brauchbares Thema im Sommerloch erwiesen? Die Zahl rechtsextremistischer Übergriffe in Deutschland hat eine Höhe erreicht, die es Politikern selbst dann nicht ermöglicht, bei sämtlichen Tatorten persönlich vorbeizuschauen, wenn sie die besten nur vorstellbaren Absichten haben. Aber es ist ihnen zuzumuten, nicht zwischen Opfern erster und zweiter Klasse zu unterscheiden. Gerhard Schröder sollte sich in den nächsten Tagen einen Termin freihalten. Es gehört nicht viel Fantasie zu der Erkenntnis, dass er ihn brauchen wird.

PS: Jüdische Deutsche gehören ebenso zu unserem Land wie Protestanten, Katholiken, Moslems und Atheisten. Sie dürfen ebenso dumme Dinge sagen und müssen gleichermaßen dafür kritisiert werden. Die Forderung des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlin, Andreas Nachama, nach ähnlich großen Anstrengungen von Sicherheitsbehörden und Politik wie beim Terrorismus der RAF ist schwer erträglich. Kontaktsperregesetz und Rasterfahndung haben sich schon einmal als untaugliche Mittel für die Rückkehr zum demokratischen Umgang miteinander erwiesen.

BETTINA GAUS