: Märchen von der Stange
Im Spreewald tobt ein Kulturkampf um eine Pflanze: Die meisten schwören auf den einheimischen Meerrettich, andere auf ein bayerisches Importprodukt. Wer wird gewinnen: Das Böse aus dem Westen oder das Gute aus dem Osten? Eindrücke von der Scholle
von DIERK JENSEN
Es war einmal im Spreewald, in einem nicht so fernen Lande, wo einst eine Stange wunderbar wuchs. Die Arbeiter und Bauern jenes Landstriches waren stolz auf ihren beißend-tränenden Meerrettich. Vor allem die Bauern waren froh ihn zu haben – brachte er doch immer volle Geldbeutel. Das ging über lange Jahre gut, bis in jenem Lande nichts mehr so ging wie vorher.
Die Zuspätgekommenen strafe das Leben, hieß es nun, und kurz danach vereinte sich das Land mit einem anderen, größeren. Dort sprach man zwar die gleiche Sprache, doch baute man dort einen anderen Meerrettich an, „den virusfreien“. Und so kam es, dass plötzlich keiner mehr etwas von der stolzen, „nichtvirusfreien“ Stange wissen wollte. Die letzten Stangen blieben deshalb im Erdreich und verdarben. Doch besannen sich einige Bauern und päppelten die allerletzten einheimischen Stangen auf. So überlebte ihr Meerrettich.
Nebel liegt über dem herbstlichen Spreewald. Erlen und Eschen lassen ihre letzten Blätter fallen, pralle Kürbisse liegen an den unzähligen Kanälen. Bauer Harald Wenzke geht über seinen Acker und erinnert sich. „Nach der Wende haben wir den bayerischen, virusfreien Meerrettich angebaut“, erzählt er, „doch mit dem hatten wir bloß Ärger. Der wuchs so in die Tiefe, dass wir ihn gar nicht mehr aus der Erde kriegten!“
Überdies ist der Meerrettich aus Bayern nicht nur größer und dicker, sondern auch renitenter: Er überlebt den Winter. Dabei ist er nicht einmal so scharf wie die original Spreewälder Variante! Das behaupten zumindest die Menschen aus dem Spreewald.
Nur noch wenig Pflanzmaterial blieb den Bauern am Ende zur sensiblen Fortpflanzung übrig, die nicht über Saat, sondern nur über die Ableger der Wurzel, die „Schwiegatse“, möglich ist. Lässt man also alle Wurzeln einer Ernte im Boden vergammeln, hat man im nächsten Jahr keine Ableger, die für neue Ernten sorgen. So wirkte die Wende nicht nur politisch, sondern bis tief in den Spreewälder Boden hinein: Gäbe es eine Rote Liste der Kulturpflanzen, so müsste der Spreewälder Meerrettich prominent genannt werden.
Doch starb die Kultur – wie im Märchen – nicht aus. „Die Augen müssen kullern, dann ist das wirklich guter Meerrettich“, weiß Bauer Klaus Wenzke, der seinen Meerrettich nur übers Wasser erreicht. Wenn die Erntezeit anbricht, dann transportiert er seinen Traktor auf zwei Kähne und steuert ihn zur Insel „Koschnick“. Dort holt er mit einem kleinen Pflug den Spreewälder Meerrettich, auf den er schwört wie andere auf einen besonders kostbaren Wein, aus der Erde.
Seine ganze Familie, auch Bruder Harald, Frau Renate und sein Sohn, läuft hinter dem Pflug hinter her und zerrt die Stangen aus dem Boden. Ein abenteuerlicher Ernteeinsatz im Biosphärenreservat, der zu DDR-Zeiten mehr einbrachte als heute im wiedervereinten Lande. Vor der Wende war die scharfe Wurzel im Osten begehrt, galt als Qualitätsware; die Bauern erhielten garantiert vier Ostmark für das Kilogramm. Deshalb erinnern sich die Brüder Wenzke gerne an die DDR-Zeit.
Heut bringt das doch alles gar nichts mehr“, schimpft Harald Wenzke auf die Preise. Trotzdem bleibt er beim Meerrettichanbau, denn es gibt für Kleinbauern nur wenig Alternativen: Die Jobs bei den nahen Braunkohlekraftwerken Lübbenau und Vetschau sind für immer passé – die Dreckschleudern sind stillgelegt. Und so gehören die Wenzkes zu jenen, die den fast totgeglaubten Meerrettich in bessere Zeiten hinüberretten helfen.
Wie auch Hermann Pschipsch. Der 69-Jährige holt seine Prachtstücke, angebaut auf einer kleinen Parzelle, idyllisch gelegen zwischen zwei Kanälen, noch mit der Forke heraus. „Ich bin hier der letzte Hermann“, sagt Pschipsch, der fast vierzig Jahre lang auf der LPG „Klein Venedig“ arbeitete. Er schwört auf die Kraft, die in der Gewürzstange liegt. „Nehmen Sie ein paar Löffel frisch geriebenen Meerrettichs und verrühren Sie ihn mit Honig, dann haben Sie lange Ruhe vor der Grippe.“
Käme es dem Rentner dabei nur aufs Geld an, dann ließe er den Meerrettich wohl da, wo er ist. Er ist der Letzte, der sein Erntegut noch mit dem Kahn zur Reiberei nach Boblitz fährt. Dort landet die geriebene Ware in den Gläsern der Konservenfabrik Rabe, wo auch Gurken und Kürbisse verarbeitet werden.
„Das Biosphärenreservat fängt auf der anderen Straßenseite an“, freut sich Geschäftsführer Rainer Belaschk im zu groß geratenen Büro. „Innerhalb des Schutzgebietes wird einem die Bewirtschaftung schon erschwert.“ So wie der Familienbetrieb den 1990 auf der letzten Volkskammersitzung verabschiedeten Biosphärenstatus bewältigte, „überlebte“ man auch die DDR. Heute gehört der Konservenabfüller zu einem der größten Arbeitgeber der Region. Damit die Fließbänder ohne Unterbrechung laufen, muss Belaschk selber Hand anlegen und mit dem Schraubenschlüssel auf die Gurkenabfüllmaschine klettern.
Während der Chef sich zwischen Gurkensud und Meerrettichreibe müht, wird in der „Kräuterhexe“ tranig debattiert. Bier, „f 6“-Zigaretten und die Brühpolnische mit Brötchen für 2,50 Mark im Bauch erleichtern die Debatten über das Gestern. Margot Rhode, burschikose Chefin des Imbisses um die Ecke, hört kaum hin. „Was, Sie wollen zehne Gläser Gurken? Nö, nehmen Se mal lieber ’ne ganze Palette, dat lässt sich besser tragen“, fährt sie den Kunden an. Prompt nimmt der eine ganze Palette mit. „Dat Geschäft läuft gut“, freut sich die 55-Jährige diebisch.
Von guten Geschäften kann Brunhild Lehniger wohl nur träumen. Dafür geht die Spreewaldbäuerin in Arbeit unter. Sie muss den Hof allein schmeißen, malocht ihr Mann Rainer doch tagsüber im Hoch- und Tiefbau. So hält der Betrieb der Lehnigers keiner Euronorm mehr stand, dürfte nach gängiger Agrarideologie gar nicht mehr existieren: Sechzig Kühe und Kälber, drei Schweine, dreißig Enten – so bunt und klein gibt’s das allenfalls noch im Allgäu.
Apropos bayerische Gefilde: Lehnigers kommen aus dem Westen und sind erst seit Anfang der Neunzigerjahre im Spreewald. Sie bauen den bayerischen Meerrettich an. Gab es doch für die Neueinsteiger nach der Wende zum Anpflanzen nur die Schwiegatse aus dem Westen: Die sei besser, hieß es. Jetzt müht sich Lehniger mit ihnen ab. So baut sie den bayerischen Meerrettich im Biosphärenreservat an, während andere andernorts mit dem echten Spreewälder Meerrettich werben.
Gegen so viel Etikettenschwindel hilft in Europa nur Zertifizierung. Und zwar von oberster, autorisierter Stelle, die sich in der Agrarkommission in Brüssel befindet. Heutzutage lässt sich nur mit aufwändiger Absegnung das Besondere, ja das Einmalige schützen. Konsequenterweise hängt die Urkunde, die die Herkunft „Spreewälder Meerrettich“ festschreibt, seit dem Frühjahr 1999 im Büro von Belaschk.
Soll doch das Brüsseler Dokument helfen, dass „nur der Meerrettich, der wirklich aus dem Spreewald kommt, auch als solcher gilt!“ Das Leben als Märchen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann reiben sie den original Spreewälder Meerrettich noch heut.
DIERK JENSEN, 36, Autor in Hamburg, ist seit Jahren auf allen Äckern der Welt unterwegs
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