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: Erhellung jüdischer Lebenslinien durch den Sport

Auf dem Sprungbrett

Als Hajo Bernett, der Nestor der deutschen Sportgeschichte, im Jahre 1978 sein Standardwerk „Der jüdische Sport im nationalsozialistischen Deutschland 1933 – 1938“ publizierte, verstanden dies viele junge Wissenschaftler als Aufruf, sich selbst diesem Gebiet jüdischer Kultur zuzuwenden. Sie erforschten die Motive der jungen Athleten, fragten nach der Funktion der zionistischen Turn- und Sportclubs oder versuchten in mühevoller Kleinarbeit, die oft nur spärlichen biografischen Fragmente bedeutender Sportler wieder zu einem Bild zusammenzufügen.

Die Quellenlage war und ist schwierig. So war eine Kontaktaufnahme zu Funktionären der frühen jüdischen Sportbewegung unbedingt notwendig. Ein unverzichtbarer Gesprächspartner war dabei Paul Yogi Mayer, der 1939 nach London emigrieren konnte. Denn in seiner Funktion als Redakteur der Sportbeilage Die Kraft des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten verfügte er über starke persönliche Eindrücke hinsichtlich der jüdischen Sportbewegung in Deutschland. Außerdem hatte Mayer 1937 als Koautor das „Jüdische Sportbuch. Weg, Kampf und Ziel der jüdischen Sportverbände“ vorgelegt, das ihn als intimen Kenner der Szene auswies.

63 Jahre später legt der jetzt 88-Jährige ein eigenes Buch vor: „Jüdische Olympiasieger“, eine Zusammenfassung seiner profunden Kenntnisse und Erlebnisse. Mayer schreibt von seiner eigenen Motivation, als Jude Sport zu treiben: „Ich habe mich schon lange vor 1933 bemüht, jungen deutschen Juden zu helfen, durch Sport und Spiel ihre Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden, in der vergeblichen Hoffnung, durch unsere Haltung und Leistung zu beweisen, dass wir als Minorität zumindest auf dem Sportfeld der Majorität ebenbürtig sind.“

Mayer konzentriert sich nicht allein auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern weitet seine Chronik auf alle jüdischen Sportler aus, die je eine olympische Medaille gewonnen haben. So stellt er für 1896 fest, dass in 9 von insgesamt 41 Wettbewerben Juden den Siegerkranz errangen.

Das Unterfangen einer lückenlosen Dokumentation ist allerdings, räumt Mayer ein, schier aussichtslos. Denn auf seine Anfragen hin bestanden viele Nationale Olympische Komitees immer wieder darauf, dass sie, so Mayer, „keine Angaben über Abstammung und Glauben von Mitgliedern ihrer Nationalmannschaften machen wollten oder konnten“. Mayers Arbeit war dadurch erschwert. Aber er sieht darin immerhin die Bestätigung der olympischen Regel, nach der eine Diskriminierung der Sportler aufgrund ihrer Religion ausgeschlossen sein soll. Glücklicherweise hätten ihm dennoch einige Funktionäre, „gewissermaßen privat“, wichtige Unterlagen zur Verfügung gestellt.

Das Buch ist für die Sportgeschichte und jüdische Geschichte eine wahre Fundgrube, und das aus vielerlei Gründen. Nehmen wir etwa das Beispiel der Frankfurter Familie Ravenstein. August Ravenstein gründete 1844 den ersten örtlichen Turnverein und wurde seitdem als „Frankfurter Turnvater“ bezeichnet; Sohn Ernest wanderte nach England aus, gründete dort ebenfalls einen Turnverein und war 1865 der Mitbegründer der „National Olympic Association“. Auch seine weiteren Aktivitäten im Funktionärsbereich zeugen von dem starken Einfluss der Juden zu Beginn des internationalen Sports. „Internationalität“ wurde schließlich auch ein wesentliches Charakteristikum der Olympischen Spiele moderner Prägung.

„Sport – ein Sprungbrett für Minoritäten“ lautet der Untertitel. Wie Mayer die überaus verschiedenen Biographien jüdische Olympiasieger nacherzählt und -empfindet, so kann man tatsächlich ahnen, dass etwa Sportarten wie Fechten oder Wasserball bei den ungarischen Juden in der frühen Sportgeschichte eine wichtige „Steigbügelfunktion“ zukam. Im Sport konnten sie sich, im Gegensatz zu mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten etwa in der Armee, Anerkennung verschaffen. Was damals bei den Einzelnen zu ihren vielschichtigen Sportkarrieren geführt hat, bleibt allerdings im Dunkeln. Mayer legt eine Grundlage zur Erhellung dieser Lebenslinien. Insofern kann diese Publikation ihrerseits als Sprungbrett dienen. ERIK EGGERS

Paul Yogi Mayer, Jüdische Olympiasieger. Sport – ein Sprungbrett für Minoritäten, Agon-Verlag, Kassel 2000, 192 Seiten, Paperback, DM 29,80