: gao xingjian
Wirklich ein Modernist
Ich lernte ihn 1985 kennen, als er vom DAAD in Berlin eingeladen war. Ich war seine Übersetzerin. Er mochte Deutschland sehr gerne und hielt die Deutschen für sehr gewissenhaft, auch ihre Ernsthaftigkeit kam ihm entgegen. 1990 traf ich ihn in der Berliner DAAD-Wohnung des Lyrikers Yang Lien wieder, als er hier war, um mit seiner Übersetzerin zu sprechen, die sein Theaterstück „Der wilde Mann“ ins Deutsche übertrug. Er stand damals noch unter dem Schock der Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens. Gao Xingjian hat sich mir gegenüber immer als Intellektueller bezeichnet, und darunter verstand er einen Menschen, der seine Bildung, seine Moral und sein Gewissen dazu nutzen muss, um den Dingen, das heißt eben auch Politik und Gesellschaft, auf den Grund zu gehen. Dieser Aufgabe konnte er aber nur nachgehen, wenn er seine Arbeit ungestört ausüben konnte: als Autor, als Theaterkritiker, als Maler. Daher hat ihn damals sehr getroffen, dass er 1983 in China als Zielscheibe der „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“ benutzt wurde. Nach den Ereignissen am Tiananmenplatz hat er innerlich mit China gebrochen. Dennoch ging die Auseinandersetzung mit der chinesischen Gesellschaft weiter, allerdings unterschwellig, in dem er weiterhin Reisen in seine eigene Psyche unternahm, die durch sein großes sprachliches Vermögen immer auch zu universellen Betrachtungen wurden. Da er alles so subtil versprachlicht, braucht es eben gewisse Antennen, um die kritischen Bezüge und Anspielungen in seinem Werk zu entdecken. Innerhalb der chinesischen Literatur ist er wirklich ein Modernist, der die Umbruchstimmung im gegenwärtigen China geradezu seismografisch aufzeichnet. Ich hatte immer das Gefühl, dass ihm die Tatsache, dass er in Paris lebte, dafür gerade die nötige Distanz und Klarheit verschaffte.
Gao Xingjiang ist ein sehr ernster Mensch, über das Schicksal des chinesischen Volkes sagte er, dass es mit ihm immer weiter bergab ginge, „ein Desaster nach dem anderen“. Dennoch hat er zu seinem eigenen Werk, auch zu seiner sehr düsteren, letztlich nach Liebe und nach Freiheit schreienden Malerei ein selbstironisches Verhältnis.
HUI-WEN VON GROEHLING-CHE
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