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Missachtung der Intelligenz

Mit der Aufgabe des Begriffs „multikulturelle Gesellschaft“ hat die Führung der Grünen sich dem Gerede von der „Leitkultur“ angeschlossen. Das wird sich schon bald rächen

Was geht das dieGrünen an? Das aufgeklärte Bürgertum kann mit Deutschtümelei wenig anfangen

Friedrich Merz lacht sich ins Fäustchen. Selten ist eine Pseudodebatte durch ein so schwachbrüstiges Argument eingeleitet worden wie mit dem Stich-Wort von der deutschen Leitkultur. Selten hat ein Begriff solchen Anklang zugleich in den Feuilletons und an den Stammtischen gefunden. Merz entpuppt sich als Musterschüler Heiner Geißlers, der in dieser Debatte – als früher Befürworter der „multikulturellen Gesellschaft“ – eher sein Antipode ist: Heute müsse Begriffe besetzen, wer politisch führen wolle, hieß die bravourös angewandte Rezeptur.

Geißlers „neue soziale Frage“ war ein Beispiel dafür, wobei dieser zündende Slogan mit Substanz verbunden war, weil er eine sich abzeichnende, von den Sozialdemokraten verkannte Transformation der Arbeitsgesellschaft auf den polemischen Begriff brachte. Dass Geißler später als Künder der multikulturellen Gesellschaft durch die Lande zog, versprach nach zahlreichen programmatischen und organisatorischen Modernisierungen ein kulturelles „Bad Godesberg“ der Christdemokraten. Das allerdings wurde niemals abgehalten.

Was den kulturellen Pluralismus der deutschen Einwanderungsnation und europäischen Einwanderungsgesellschaft angeht, verweigern Friedrich Merz, Roland Koch und ihre Mitstreiter in der CSU die fällige kopernikanische Wende. Wie der Vatikan die Erde wider besseres Wissen zur Scheibe erklärte, bleibt die Leitkultur im Sauerland, in Oberhessen und im Bayerischen Wald deutsch-national, hilfsweise christlich-abendländisch. Die Unions-Basis, der solche Doktrinen gewidmet sind, ist zufrieden, auch leitende Redakteure sind froh, wenn sie wieder stolz sein dürfen, Deutsche zu sein. Thomas Schmid gehört dazu, der sich doch schon immer wünschte, die Linke möge den antideutschen Affekt ablegen – „über die Verfassung hinaus“.

Wo man hier „gegen Ausländer unterschreiben“ könne, lautete die Anfrage an Roland Kochs CDU-Ständen 1998, und in diesem Sinne wird die Union in zwei Jahren auch Wahlkampf machen, wenn es sonst kein Thema gibt: nationalpopulistische Stimmungsmache, die ein kompliziertes Problem namens Einwanderung auf ein paar Ressentiments und Banalitäten verkürzt. Geißler darf in die Talkshows, Rita Süssmuth eine Regierungskommission leiten, Angela Merkel lavieren und moderieren – aber das Trio infernale Koch/Merz/Stoiber besetzt die Begriffe. Niemand hat bisher richtig bemerkt, dass es hier nicht allein „gegen Ausländer“ geht, sondern vor allem: gegen Europa.

Was geht das die Grünen an? Das Ganze war ein CDU-interner Klärungsprozess und der Versuch, mit einem zugkräftigen Hessenthema Bundespolitik zu machen, nachdem die Variante Rüttgers („Kinder statt Inder“) in NRW nicht hingehauen hatte. Die grüne Opposition, Verzeihung: Regierung hätte sich darum nicht groß kümmern müssen. Ihr Ziel müsste sein, ein überzeugendes Einwanderungsgesetz zustande zu bringen, wobei der große Gegenspieler in der eigenen Regierung sitzen und Otto Schily heißen dürfte.

Die Grünen, die auf diesem ihrem ureigenen Feld nicht mehr viel zu sagen haben, müssen die Agenda der Zuwanderungskommission publik machen, damit weitere Restriktionen des Asylrechts durch Intervention der Menschenrechtsgruppen verhindert werden und eine breite, rationale Debatte überhaupt möglich wird. Damit kann die rot-grüne Regierung – nach der halbwegs gelungenen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts – ins Feld führen, dass sie auf heiklem Terrain handlungsfähig ist und ein „Zukunftsproblem“ angepackt hat.

Zu aufgeregter Polemik gegen Merz bestand also wenig Anlass – und noch weniger dazu, sich dem Gerede von der Leitkultur anzuschließen. Die grüne Parteivorsitzende Renate Künast tat aber genau das, indem sie den Terminus „multikulturelle Gesellschaft“ als „schwammig“ und „problematisch“ abtat. Auch die schwammige Art und Weise, in der sie den Rückzug antrat, machte weder auf Freunde noch auf Gegner einen guten Eindruck. Begriffe ersatzlos preiszugeben ist keine sonderlich intelligente Strategie.

Warum rudern die Grünen zurück, obwohl alle ernsthaften Debattenbeiträge in allen großen Meinungsblättern – man lese nur mit Zustimmung Christian Geyer in der FAZ – anderes nahe legten? Die FDP hat wieder einmal schneller begriffen, dass das aufgeklärte Bürgertum mit Deutschtümelei wenig anfangen kann; auch Rainer Brüderle bekennt sich jetzt zur Multikultur, die er sicherheitshalber „Polykultur“ nennt. In allen menschen- und bürgerrechtlichen Fragen, Einwanderungsgesetz und das unsinnige NPD-Verbot eingeschlossen, erweisen sich die Liberalen zumindest rhetorisch als standfester.

Die Pseudodebatteum die „deutsche Leitkultur“ richtet sich weniger gegen Ausländer als gegen Europa

Das lässt ein allgemeines Problem der Bündnisgrünen erkennen: Die Hinwendung zur Leitkultur des Verfassungspatriotismus ist eine späte Anerkennung universalistischer Prinzipien, die in dem früheren, ganz oberflächlichen Bekenntnis zu Buntheit und offenen Grenzen und in der öden Praxis basisgrüner Projektemacherei tatsächlich schmerzhaft vermisst wurden. Jener Multikulturalismus, der sich im dogmatischen Festhalten am „Doppelpass“ niederschlug und auf eine bloße Verdoppelung des kulturellen Pluralismus in politischer Beliebigkeit hinauslief, war tatsächlich keine solide Grundlage für Diskussion und Gesetzgebung.

Im opportunistischen, kopflosen Verhalten der grünen Führung zeigt sich eine generelle Unsicherheit dieser Regierungspartei: Statt – wie es in der Gesundheits- und Steuerpolitik leider viel zu unauffällig geschieht – die Sozialdemokratie durch innovative Politik vor sich herzutreiben, demonstriert sie, etwa bei der Anerkennung der Westbindung und selbst in der Umweltpolitik, nur verspätete Lernschritte: Die bundesdeutsche Gesellschaft ist längst weiter als etwa Rezzo Schlauch, der auf seine alten Tage die Freude am Autofahren zugibt, und eben eine Renate Künast, die sich nach langen Kreuzberger Wirren auf den Grundwertekonsens besinnt. Das steht demnächst auch im „Eckwerte-Programm“ der Union, ohne dass die Bündnisgrünen einen einzigen Punkt in der Debatte gemacht oder eine einzige Stimme zurückgeholt haben.

Die komplette Missachtung, die Grüne und auch Sozialdemokraten der sozial- und kulturwissenschaftlichen Intelligenz in diesem Lande entgegenbringen, ist kaum zu übertreffen. Ersatzweise hätten sie sich in Sachen Leitkultur wenigstens bei auswärtigen politischen Philosophen und Kultursoziologen wie Michael Walzer kundig machen können – alle einschlägigen Schriften sind auf Deutsch erhältlich. Die Ignoranz wird sich rächen, und Rot-Grün wird in jene Klemme geraten, in die Ralph Nader den Präsidentschaftsbewerber Al Gore versetzt hat. Zur Erinnerung: Nader kandidiert für die amerikanischen Grünen. Die Parteiführer, die ihn jetzt interessiert beim Wahlkampf beobachten, wissen wohl gar nicht, wie ähnlich sie dem zaudernden Gore schon geworden sind. CLAUS LEGGEWIE

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