: Das Orakel des Richters Lewis
Ein salomonisches Urteil sorgt für die Fortsetzung des Auszähl-Krimis in den USA. Floridas Innenministerin ruft jetzt den Obersten Gerichtshof an
aus Washington PETER TAUTFEST
Das muss man dem Mann lassen: Er hat ein Händchen für Dramaturgie und Spannung. Im Urteil von Terry P. Lewis, Richter am Bezirksgericht von Floridas Hauptstadt Tallahassee und im Nebenberuf Krimiautor, mischen sich die Einflüsse des weisen Königs Salomo und des vielschichtigen Autors Lewis Carroll, wie dessen „Alice hinter den Spiegeln“ sich jetzt Floridas Innenministerin Katherine Harris, im Nebenberuf Vorsitzende von Floridas Wahlkampfkomitee für George Bush, fühlen wird. Wer seinen Spruch auslegt, könnte am Ende dastehen wie der Lyderkönig Krösus, dem Pythias Orakel weissagte, er würde bei einem Feldzug gegen die Perser ein großes Reich zerstören. Er zog los – und zerstörte damit sein eigenes Reich. Katherine Harris – und mit ihr Bush –, die Siegerin von gestern, könnte die große Verliererin von morgen sein. Gestern versuchte sie sich mit einem Appell an den Obersten Gerichtshof aus dem Dilemma zu ziehen: Der möge die Auszählung per Hand stoppen und sich für alle weiteren rechtlichen Fragen um die Auszählungen zuständig erklären.
Im Streit um die Stimmenauszählung in Florida, die letztendlich über den neuen Präsidenten der USA entscheiden wird, hatte Al Gores Team das Gericht angerufen, weil Katherine Harris als Deadline für die Auszählung Dienstag, 17 Uhr, angesetzt hatte. Die Nachzählung per Hand in vier Landkreisen kann jedoch noch Tage dauern. Das sei eine Beugung des Wählerwillens, argumentierten Gores Anwälte. Harris dagegen hatte sich auf Floridas Gesetz berufen, das die amtlich beglaubigten Wahlergebnisse sieben Tage nach dem Wahltag einfordert.
Richter Lewis nun hatte geurteilt, dass Harris das Recht hat, die Wahlergebnisse anzufordern, und dass es in ihrem Ermessen liegt, später eingehende Auszählergebnisse zu akzeptieren oder auch nicht. So weit scheint dies ein Sieg für Gores Konkurrenten George W. Bush zu sein, der derzeit in Florida knapp vorn liegt und so die entscheidende Wahlmännermehrheit gewänne. Doch Lewis fügte eine unscheinbar wirkende Warnung hinzu: Ermessen heißt in diesem Zusammenhang nicht willkürliches, sondern pflichtgemäßes Ermessen. Harris kann nicht entscheiden, was sie vielleicht am liebsten entscheiden würde, weil sie dem Wahlkampfkomitee für den Bruder ihres Gouverneurs Bush vorsitzt. Willkürlich wäre schon die Ankündigung, dass sie später eingehende Wahlergebnisse kategorisch nicht annehmen werde. Sie müsse sich schon die Begründung der Nachzügler anhören und danach entscheiden. Harris sah sich in einer Zwickmühle. Akzeptierte sie Ergebnisse mit starkem Stimmenzuwachs für Gore, könnte sie zu Bushs Wahlniederlage beitragen, lehnte sie die Ergebnisse aber ab, landete ihre Entscheidung und damit das Wahlergebnis mit einiger Sicherheit wieder vor Gericht. Aus dieser Zwickmühle soll ihr jetzt also der Oberste Gerichtshof helfen.
Inzwischen sind bald mehr Anwälte und Gerichte mit der Entscheidung des Wahlausgangs beschäftigt, als es Wählerstimmen gibt, die am Ende dem einen oder anderen Kandidaten den Sieg zuschieben werden – zurzeit liegt Bush mit 300 Stimmen in Führung. Ihres Sieges nicht ganz sicher, suchen Bushs Leute vor einem Bundesgericht in Atlanta eine Revision des erstinstanzlichen Urteils, das es ins Ermessen der Landkreise stellt, ob sie auszählen wollen. In Palm Beach selbst sind insgesamt zehn Verfahren wegen Irreführung der Wähler anhängig.
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