: Unsere große radikale Minderheit
Sieben Millionen Wahlbürger haben ein rechtsextremes Weltbild. Erst wenn man das wahrnimmt, wird konkretes Handeln gegen Rechtsextremismus möglich. Die Frage dabei ist: Wie ist zu vermeiden, dass die jetzigen Kinder ihren etwas älteren Freunden nachlaufen, die Hate-Crime-Taten begehen?
von BODO MORSHÄUSER
Man will den Schalter umlegen zur „gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinsveränderung“ hin, hier und da kurz Ruck genannt. Jetzt sieht der Schalter nur abgegriffen aus. Und seine Ausrichtung ist immer noch die Gleiche.
Das jüngste Gerede über Rechtsextremismus erinnert mich an die Beteuerungen eines Suchtkranken, er werde seine Sucht beenden. Er erzählt plausibel, wie er es schaffen wird. Sein Ziel ist nicht, clean zu werden, sondern in seiner Katastrophe Zuwendung zu erheischen. Ist das Ziel erreicht, lebt er gut weiter mit seiner Sucht, bis zur nächsten strategischen Beteuerung, er wolle aufhören. Strategisch, weil er nur eine falsche Glaubwürdigkeit im Innern erreicht, die ihm sagt, er sei okay und alles werde gut.
Hin und wieder zeigt die Mitte der Gesellschaft ihr grundschlechtes Gewissen. Oder taucht nur ein Wissen wieder auf, das ständig beiseite geschoben wird? Wäre sonst seit Ende Juli erneut der Rechtsextremismus so heftig zur Sprache gebracht worden? Mit einem Schlag, mit der Nachricht von dem Düsseldorfer Attentat meldete sich das schlechte Gewissen oder das verdrängte Wissen. Das Gedächtnis der Gesellschaft funktionierte wieder. Allerdings scheinen diese Phasen immer eher die Qualität eines entlastenden Schubes zu haben als die einer Bewusstwerdung. Erinnern, um danach besser vergessen zu können. Zeitungen berichteten wieder über die alltäglichen Überfälle und Übergriffe. Das Ansehen Deutschlands litt. Das Leid der Hinterbliebenen der Erschlagenen wurde nicht als Grund genannt.
Die Logik der Aufmerksamkeit auf Themen gehorcht der Logik der Medien. Wichtiges Logik-Medium der Medien ist die Welle. Da die Infobrocken per Welle angeschwemmt werden, surft der Konsument mit. Wichtiger als das Thema selbst ist seine Wellenbildungsfähigkeit. Unter diesen komatösen Umständen beschäftigt sich die Gesellschaft ab und zu mit ihrem rechten Rand. Der Concordeabsturz, das Düsseldorfattentat und die folgenden, der Ökosteuerprotest, Frank Schmökel, BSE. Unter diesem Aspekt sind vier Monate öffentlichen Redens über Neonazis und ihre Sympathisanten ja schon beachtenswert.
Wenn Verdrängtes in Schüben wiederkehrt, bestimmt man den Zeitpunkt nicht selbst. Man hält es einfach nicht mehr aus. Zum Beispiel, weil eine Nebenwirkung einem so übel aufstößt, dass man sein Leben ändern will. Es ist nur logisch, dass der deutschen Gesellschaft ihr Rechtsextremismus wieder eingefallen ist nicht wegen einer erwiesenermaßen rechtsextremistischen Tat, sondern nach einem Anschlag, von dem man bis heute nicht weiß, wer ihn aus welchem Grund verübt hat – nur: Diese Tat wurde als symbolische wahrgenommen. Ist es ein Wunder, dass auch die Maßnahmen im so genannten Kampf gegen den Rechtsextremismus symbolisch sind?
Eine größtenteils symbolische Handlung ist ein NPD-Verbot. Es hat erwünschte konkrete Auswirkungen (die Verunsicherung der Szene) und auch unerwünschte (Kontrollverlust über die Szene, sowie ihre Verschiebung). Die Idee kam auf, nachdem eine Demonstration dieser Partei durch das Brandenburger Tor führte. Als Alternative wurde diskutiert: entweder eine Bannmeile um schützenswerte symbolische Orte oder ein NPD-Verbot von nicht minder symbolischer Wucht.
Entweder wir nehmen zur Kenntnis, dass 15 Prozent der Deutschen ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben, oder nicht. Wenn nicht, muss man alle paar Jahre allen, die nicht danach gefragt haben, erzählen, dass Fremdenfeindlichkeit in diesem Land kein Thema ist – womit man jedesmal das Gegenteil beweist. Nimmt man es aber zur Kenntnis, dass etwa sieben Millionen Wahlbürger über ein rechtsextremes Weltbild verfügen, dann muss man nicht mehr symbolisch, dann kann man konkret handeln.
Wenn nicht aktionistisch-symbolisch, sondern problembezogen gehandelt werden soll, dann muss an die jetzigen Kinder gedacht werden, nicht an die jetzigen Jugendlichen. Das hätte schon 1992/93 geschehen können und müssen. Die Täter von heute waren um Solingen herum ungefähr zehn Jahre alt. Die hat man seither mehr oder weniger aufgegeben.
Wie ist zu vermeiden, dass die jetzigen Kinder, wenn sie ins Täteralter kommen, ihren etwas älteren Freunden nachlaufen, die Hate-Crime-Taten begehen? Was wäre die Sanktion, die sie und ihre Eltern erwartet? Es müssen die Schulen ernsthaft ins Gespräch kommen. Was wird von ihnen erwartet und was ist man bereit für ihre Ausstattung auszugeben? Soziales Lernen findet kaum noch in den Elternhäusern statt. Die Schulen sind nicht verpflichtet, die Lücke zu schließen. In diesem Zuständigkeitsvakuum bleiben Kinder Moden oder dominanten Mitschülern überlassen.
Am „gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein“ dreht man am besten noch mit Geld beziehungsweise seinem Mangel. Eltern und Kinder müssen wissen, dass es um den späteren Lebensweg der jungen Gewalttäter schlecht bestellt ist. Auf anderes als Geldentzug wird in der Geldgemeinschaft nicht reagiert. Wer sich an Hate-Crime-Taten beteiligt, sollte wissen, dass er nicht nur Ansehen, sondern Geld und Status und die erwünschte Zukunft verliert.
Nur ist eine „gesamtgesellschaftliche Bewusstseinsveränderung“ bei diesem Thema schwer über Gebühren und Steuern zu erreichen. Ein ökologisches Bewusstsein hat sich in der Bevölkerung nicht entwickelt, weil es das vernünftigere ist, sondern weil das unökologische Bewusstsein teurer, unbequemer und rufschädigend wurde. Frage also ist: Wie kann man rechtsextreme Aktionen verteuern?
Der interessanteste Vorschlag kam von Kurt Biedenkopf. Er schlug vor, das Zivilrecht zu ändern und Verbandsklagen zuzulassen wegen materieller und auch immaterieller Schäden – mit dem Ziel von Schadensersatzzahlungen. Der interessanteste Vorschlag hat keine Chance.
Rechtsextreme Gewalttäter werden, um ein Wort von Ralph Giordano zu verwenden, hierzulande behandelt wie „unartige Verwandte“ in einer Familie, nicht wie Straftäter. Egal was ein Verwandter oder ein Familienmitglied anrichtet: Er kann damit rechnen, dass ihm in der Not jemand hilft, er wird erfahren, dass er einen Rückhalt spüren kann. Egal, was er tut. Du bist nicht allein.
Wie heftig und gleichmäßig die Anfeuerungsrufe aus der politischen Mitte hin zum rechten Rand geschehen, wird offensichtlich, wenn man sich anschaut, welche Diskussionen die jüngste öffentliche Erregung über unseren Rechtsextremismus einrahmten.
Roland Koch gewinnt die Wahl in Hessen mit einer Aktion gegen das Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft und der Behauptung, die Gesellschaft werde noch unfriedlicher, wenn das Gesetz nicht verhindert wird. Jürgen Rüttgers vertölpelt seinen Wahlkampf, indem er mit seiner Kinder-statt-Inder-Entgegnung auf die Green Cards dieselben Emotionen zu wecken versucht. Dreieinhalb Wochen nach dem Düsseldorfer Attentat wird in der BZ der Berliner Polizeipräsident Hagen Saberschinsky zitiert: „Berlins Entwicklung zur Weltmetropole hat auch ihre Kehrseite. Die Stadt als Bindeglied zwischen West- und Osteuropa zieht das lichtscheue Gesindel an wie das Licht die Motten.“ Die Diskussion geht weiter, Politiker sehen Wahlkämpfe auf sich zukommen und bitten darum, das Thema Einwanderung beziehungsweise Zuzugsbegrenzung, über das inzwischen geredet wird, aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Das wird nicht gelingen. Inzwischen hat die FAZ sich von dem definierten Begriff Rechtsextremismus getrennt und vermischt in ihren Artikeln bunt die Begriffe Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus. Der Begriff der Leitkultur brachte dann auf den Punkt, worum es in dieser Debatte mehr und mehr geht: um Wählerstimmen. Genau genommen um sieben Millionen Wählerstimmen. Angela Merkel setzte neulich nach, indem sie dem politischen Gegner ein gestörtes Verhältnis zum Vaterland vorwarf.
Werden die jetzt Zehnjährigen aufgegeben oder nicht? Kann man sich um sie kümmern und gleichzeitig eine Wahl gewinnen? Beides scheint sich auszuschließen. Muss weiter zwischen Routine (Demonstrationen, Rockkonzerte, Verbote, Fernsehspots) und Ratlosigkeit (Vergleich der Rechtsterroristen mit der RAF, Forderung, Rechte aus dem Internet zu verbannen) laviert werden?
Ich habe 1992 eine mehrjährige Recherche über Rechtsextremismus abgeschlossen, zwei Bücher darüber geschrieben und knapp hundert öffentliche Veranstaltungen zu dem Thema gehabt. Ich habe die seit dem 27. Juli dieses Jahres entfachte Diskussion beobachtet und längere Zeit gedacht, es gebe keine neuen Argumente, nicht mal eine veränderte Wirklichkeit. 1992 habe ich geschrieben, Rechtsextremismus erhalte immer wieder Impulse aus der Mitte der Gesellschaft. Am Rand wird dann ausagiert, wovon die Mitte „nur“ redet. Ich nannte es „Extremismus der Mitte“. Kaum war der Begriff veröffentlicht, erfuhr man nachträglich, was sich in Dolgenbrodt abgespielt hatte, wo die Abfacklung eines geplanten Asylbewerberheims in Auftrag gegeben und bezahlt wurde.
Der Tod des sechsjährigen Jungen im Sebnitzer Freibad scheint nach Lage der Dinge entweder ebenfalls aus der wohl anständigen Mitte der Gesellschaft heraus angestiftet und möglicherweise auch bezahlt worden zu sein. Und/oder der Tod des Jungen ist von dessen Angehörigen instrumentalisiert worden und sollte, gegen kleine Bezahlung, anderen Bewohnern des Städtchens untergeschoben werden. Somit gibt es doch einen Unterschied zwischen den Jahren um 1992 und heute: Es gibt nämlich nicht nur einen Extremismus der Mitte, sondern es gibt mehrere, sozusagen eine mehrfach schuldig gewordene Mitte der Gesellschaft. Eigentlich hatte ich damals die Sprüche von Erwachsenen, auch Politikern, gemeint, die von den halbwüchsigen Tätern als Anfeuerungsrufe verstanden und umgesetzt werden. Und ich meinte Fernsehreporter, die damals wie heute Hunderter an kleine Glatzen verteilen, damit ein paar Steine fliegen.
Was in Sebnitz geschehen ist, zeigt, dass die angeblich so wohl anständige Mitte der Gesellschaft, wenn nicht Anstifterin, dann Ausnutzerin dieser Tat ist. Angesichts der fahrlässigen Ermittlungsarbeit damals ist sogar noch eine weitere Kraft aus der Mitte der Gesellschaft beteiligt, nämlich jene Behörden, deren Pflicht es ist, solche Taten oder Tode, wenn sie sie schon nicht verhindern können, wenigstens umfassend aufzuklären. Das ist das Neue im Jahr 2000 im Vergleich zum Jahr 1993: Die Mitte der Gesellschaft zeigt sich noch viel tiefer verstrickt in den Rechtsextremismus, als man damals ahnen konnte. Ungefähr so tief verstrickt, wie sie sich gerade frei reden will.
Aber der Kampf zieht weiter. Die Nachrichten beginnen nicht mehr mit der Phrase „Im Kampf gegen den Rechtsextre mis mus . . .“ Nun heißt es: „Im Kampf gegen den Rinderwahnsinn . . .“
Bodo Morshäuser ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Er schrieb die Bücher „Die Berliner Simulation“, „Gezielte Blicke“, „Warten auf den Führer“, „Hauptsache Deutsch“
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