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Überforderte Schule

taz-Serie „Migration und Bildung“ (Teil 5): Türkische Mütter wehren sich gegen den Vorwurf, sie würden ihre Kinder nicht genügend motivieren. Vielmehr passe sich die Schule den veränderten Verhältnissen nicht an

Das Gespräch führtenJULIA NAUMANNund UWE RADA

taz: Wie gut sprechen Ihre Kinder Deutsch?

Saniye Çesmeli: Meine 5-jährige Tochter geht in den Kindergarten und spricht mittlerweile besser Deutsch als ich. Ich spreche sehr gebrochen Deutsch, weil ich nur drei Monate einen Sprachkurs gemacht habe und dann schwanger wurde.

Sibel Gürkan: Mein größerer Sohn kam mit zwei Jahren in den Kindergarten. Ich hatte ihn extra in einen privaten Kindergarten geschickt, in den fast nur deutsche Kinder gingen. Doch nach einem Jahr konnte er immer noch kein Deutsch. Die Erzieherin schlug vor, dass das Kind eine Therapie machen solle. Es war mir sehr peinlich, dass er kein Wort Deutsch konnte, obwohl so viele Deutsche in den Kindergarten gingen. Dann habe ich einen speziellen privaten Unterricht organisiert, und nach einigen Monaten hat er angefangen, Deutsch zu sprechen. Jetzt ist er in einem zweisprachigen Kindergarten.

Nesrin Tekin: Mein Sohn spricht sehr gut Deutsch, er ist ja hier aufgewachsen und hat deutsche Freunde. Für mich ist das größere Problem, dass er langsam seine Muttersprache Türkisch verlernt. Ich versuche deshalb, mit ihm zu Hause nur Türkisch zu sprechen.

Tülay Usta: Meine ältere Tochter wurde zwei Jahre lang von meiner Mutter erzogen, weil wir keinen Kindergartenplatz bekommen haben. In der Kita hat sie nur drei Monate gebraucht, um Deutsch zu lernen. Dann konnte sich ganz schnell besser Deutsch als Türkisch. Sie hat sich sogar geweigert, mit mir Türkisch zu sprechen. Sie hat jetzt auf dem Gymnasium noch Französisch dazubekommen. Meine Tochter ist sehr sprachbegabt. Ich glaube, das liegt daran, dass sie sehr früh mit mehreren Sprachen vertraut war. Sie kann Türkisch jedoch nur sprechen, aber nicht schreiben. Die türkische Alphabetisierung fehlt.

Das hört sich so an, als gebe es ein Sprachproblem in dieser Stadt, aber kein deutsches, sondern ein türkisches. Warum gibt es dennoch so viele türkische Kinder, die kein oder ganz schlecht Deutsch können?

Gürkan: Vor einigen Jahren war es noch schwierig, einen Kindergartenplatz zu bekommen. Deswegen sind die Kinder sehr spät in den Kindergarten gekommen oder waren ganz zu Hause. Jetzt ist es leichter.

Usta: Es gibt Familien, in denen Deutschlernen und der Kindergartenbesuch überhaupt keine Rolle spielt. Zum Beispiel, wenn die Frau in der Türkei aufgewachsen und erst hier geheiratet hat, also erst kurze Zeit da ist. Sie kennt es immer noch so, dass die Kinder in der Großfamilie aufwachsen, dass sie dort behütet und gut versorgt sind. Wenn sie dann alt genug sind, gehen sie in die Schule. Vorschule und Kindergarten sind in der Türkei nicht so sehr verbreitet.

Wenn die Mütter ihre Kinder in Deutschland nach einem ähnlichen Muster erziehen, dann haben viele Kinder Schwierigkeiten, sich in die Kita-Gruppen einzugliedern. Als meine ältere Tochter in die Vorschule ging, war dort ein Junge, der große Schwierigkeiten mit der Sprache hatte, obwohl er vom Hörensagen ein bisschen Deutsch konnte. Es zu gebrauchen, fiel ihm sehr schwer. Seine Eltern haben ihn schließlich wieder abgemeldet. Jetzt geht er in die Schule, und sein Deutsch ist schlecht. Viele türkische Eltern denken, wenn die Kinder in die Schule gehen, dann werden sie schon automatisch Deutsch lernen.

Sind Sprachprobleme und Spracherfolge auch abhängig davon, welche Alltagssprache in der Kita oder in den Schulpausen gesprochen wird?

Tekin: Ich habe fast vier Jahre lang in einer Hauptschule in Kreuzberg als Sozialarbeiterin gearbeitet. Circa 80 Prozent der Schüler waren nichtdeutscher Herkunft, die Mehrheit davon aus der Türkei. Viele Kinder haben dort Sprachprobleme. Das hat verschiedene Gründe: Viele, die wenig Deutsch können, sind früher nicht in den Kindergarten gegangen. Sie haben Deutsch erst mit der Einschulung gelernt. Das liegt auch daran, dass sich viele Eltern den Kindergarten nicht leisten können. Sind mehrere Kinder zu Hause, verzichten sie oft auf den Kindergarten. Dadurch kommen die Kinder wenig mit Deutschen in Berührung. Wenn sie dann in die Schule kommen, kommen sie häufig in Förderklassen, in denen nur Türken sind.

Diese Förderklassen werden doch aber deswegen eingerichtet, damit die Kinder ganz intensiven Sprachunterricht bekommen. Danach kommen sie in Regelklassen mit deutschen Kindern. Was ist daran schlecht?

Usta: Ich war auch in einer solchen Spezialklasse in Kreuzberg. Ich konnte meiner Meinung nach bereits nach der ersten Klasse sehr gut Deutsch. Ich musste jedoch bis zur 5. Klasse in dieser Klasse bleiben. Ich war die beste Schülerin. Wir sind dann nach Steglitz gezogen, und meine Leistungen sind rapide gesunken. Ich habe nur noch eine Hauptschulempfehlung bekommen. Das war für mich als Kind sehr kränkend.

Gürkan: Ich war 12 Jahre alt, als ich nach Deutschland kam. Ich war zwei Jahre in einer Vorbereitungsklasse in Kreuzberg, in der nur türkische Lehrerinnen unterrichteten. Dann sollte ich in eine normale Klasse kommen. Ich habe mich riesig gefreut. Doch in dieser Klasse war kein einziger Deutscher, auf der gesamten Schule waren fast nur Ausländer. Ich habe deshalb nur Türkisch geredet und habe ganz wenig Deutsch gelernt. Zwangsweise. Nur die Lehrer waren deutsch. Ich wurde sehr oft ausgelacht, weil Türken in meiner Klasse wesentlich besser Deutsch sprachen als ich. Anfang der neunten Klasse habe ich dann gesagt: Ich will nicht mehr. Jetzt kann ich immer noch nicht perfekt Deutsch sprechen, aber ich kann es ein bisschen. Deutsch habe ich gelernt, als ich mit 16 Jahren als Reinigungskraft in einem Krankenhaus angefangen habe. Die Patienten haben mich unterrichtet.

Tekin: Viele Schulen sind auf Migranten immer noch nicht vorbereitet. Das deutsche Schulsystem kann nicht davon ausgehen, dass die Erstklässler alle perfekt Deutsch können. Es muss sehr viel mehr getan werden. Immerhin zahlen die türkischen Eltern hier eine Menge Steuern.

Wo lernen die Kinder besser Deutsch, in Steglitz oder in Kreuzberg?

Usta: Es ist tatsächlich sehr abhängig davon, in welchem Bezirk sich die Schule befindet. Wenn die Kinder in Kreuzberg alle untereinander Türkisch sprechen, dann ist es natürlich für die Lehrerin wesentlich schwieriger, ihnen etwas beizubringen. In Steglitz ist die Mischung da. Da lernen die Kinder untereinander besser, weil die Verhältnisse ausgewogener sind.

Sollten die Kinder wie in den USA in Bussen in andere Bezirke gebracht werden?

Gürkan: Das nicht. Aber ich denke, dass die wenigen deutschen Eltern in Kreuzberg ihre Kinder in gemischte Gruppen geben sollten. Ich habe beobachtet, dass es in Kreuzberger Kitas oder Schulen einzelne Gruppen oder Klassen gibt, in denen viele deutsche Kinder und einzelne ausgewählte ausländische Kinder sind. Daneben existieren Klassen, in denen nur ausländische Kinder sind. Da sind sind Ängste genau umgekehrt. Die deutschen Eltern haben Angst, dass ihre Kultur und Sprache untergeht. Sie haben große Ängste, anstatt zu sagen, gut, dann lernt mein Kind auch mal was anderes. Es sollten nicht nur die türkischen Eltern beschuldigt werden, sondern auch die deutschen. Sie sollten auch zur Interkulturalität beitragen und nicht mit ihren Kindern aus Kreuzberg auswandern.

Usta: Ich fände das absurd. Das gibt noch mehr Zündstoff. Dadurch würde die Schulverwaltung durch die Hintertür zugeben, dass es ein Problem des Schulstandortes ist.

Tekin: Die deutschen Eltern haben sicherlich zu Recht Angst, dass ihre Kinder in diesen Schulen keine gute Bildung bekommen. In den Schulen, in denen viele ausländische Kinder sind, geben sich die Lehrer weniger Mühe. Das kann man ganz klar bobachten. Die Arbeit hat wenig Qualität.

Sind die Lehrer überfordert?

Tekin: Ja. Aber ich denke, manche zeigen auch keine Bereitschaft. Sie müssten ihren Unterricht anders gestalten. Sie können nicht davon ausgehen, dass sie eine homogene Klasse vor sich haben. Die deutsche Schule muss sich etwas einfallen lassen. Der Sprachunterricht müsste sich verändern, die zweisprachige Alphabetisierung verstärkt werden. Kinder, die ihre Muttersprache gut gelernt haben, haben keine Probleme mit der deutschen Sprache. Interkulturelle Inhalte müssen in den Unterricht. Wenn die Schulen sich mehr Mühe geben würde, wirklich gute Arbeit zu machen, und mehr finanzielle Mittel hätten, dann würden die deutschen Eltern auch ihre Kinder nicht aus den Klassen nehmen.

Schulsenator Klaus Böger schiebt den türkischen Müttern den Schwarzen Peter zu. Sie seien mit schuldig, dass ihre Kinder kein Deutsch lernen, weil sie mit ihnen nur Türkisch sprechen. Wie hilfreich sind Deutschkurse für türkische Mütter?

Tekin: Ich habe ein Jahr lang einen solchen Kurs in der Schule, in der ich gearbeitet habe, geleitet. Meiner Meinung nach sollen die Mütter nicht Deutsch lernen, damit sie mit ihren Kindern zu Hause Deutsch sprechen. Das finde ich absolut falsch.

Wenn man in Kreuzberg lebt, braucht man die deutsche Sprache nicht. Die Frauen müssen das selbst erkennen. Ich bin sehr dafür, dass die Frauen für sich deutsch lernen, damit sie sich in der Gesellschaft zurechtfinden, damit sie die Chance bekommen, den Schulabschluss zu machen. Es ist für sie selbst wichtig, dass sie Deutsch lernen und nicht, dass sie es ihren Kindern beibringen. Wie kann eine Mutter, die selbst bruchstückhaft Deutsch kann oder gerade angefangen hat, Deutsch zu lernen, ihrem Kind Deutsch beibringen? Das finde ich absurd.

Ein weiteres Vorurteil der Deutschen ist, dass türkische Eltern nicht so sehr an der Bildung ihrer Kinder interessiert sind, dass sie sie im Zweifel lieber im eigenen Geschäft arbeiten lassen, als aufs Gymnasium zu schicken.

Çesmeli: Das trifft vielleicht auf die erste Generation zu. Der zweiten und dritten Generation ist es ganz wichtig, dass die Kinder einen guten Abschluss machen, weil sie selbst sehen, wie es ihnen in Deutschland erging.

Die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache. Jeder dritte Jugendliche nichtdeutscher Herkunft hat gar keinen Schulabschluss.

Usta: Wenn schlechte Arbeit in der Schule geleistet wird, dann resignieren die Kinder sehr schnell. Das sieht man ja an Frau Gürkans Geschichte. Es ist schwierig für uns Eltern, die Kinder aufzufangen, damit sie wieder in die Schule gehen.

Viele Eltern, sowohl Deutsche als auch Nichtdeutsche können eine solche Fürsorge gar nicht leisten.

Usta: Das stimmt. Mein Mann spricht sehr schlecht Deutsch, und so bin ich es, die die Schulangelegenheiten managt und auf die Elternabende geht. Mir wurde von einigen Lehrern vorgeworfen, dass ich eine Mutter sei, die zu sehr fordere. Ich wurde als unangenehmer türkischer Elternteil bezeichnet. Die Lehrer gehen wohl davon aus, dass die türkischen Eltern sich nicht um die Schulbildung kümmern. Dabei stimmt das gar nicht. Sie haben nur keinen adäquaten Zugang. Wenn ich dann komme und die Lehrer auffordere, aktiv zu werden, sind sie pikiert.

Was müsste an Schulen mit höherem Ausländeranteil verbessert werden?

Tekin: Als ich in der Schule arbeitete, hatten viele türkische Eltern Vertrauen zu mir. Sie riefen mich an und erzählten mir viel, auch persönliche Dinge. Die Schulen müssen verstärkt ausländische Lehrer, Erzieher und Sozialarbeiter einstellen. Der Ausländeranteil lag bei 80 Prozent. Ich wurde im Rahmen eines Modellversuchs eingestellt. Ich bin jetzt weg, und es wurde kein anderer Sozialarbeiter eingestellt. Die Eltern müssen mit ihren Problemen zu uns kommen können. Das gilt für deutsche und ausländische Eltern.

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