: Klischees, die zu Waffen wurden
Enthält ein Text Peter Rühmkorfs aus dem Jahr 1962 Anzeichen für einen Antisemitismus von links? Ein offener Brief und die Hintergründe
Das Buch der Literaturwissenschaftlerin Barbara Wiedemann „Paul Celan – die Goll-Affäre“ enthält 926 Seiten Material – Briefe, Zeitungsartikel, Buchauszüge –, die belegen, was für ein Skandal die deutsche Rezeption Paul Celans bis weit in die Sechzigerjahre hinein war. Und das Buch enthält eine fatale Anmerkung. Sie lautet: „PC [= Paul Celan] assoziiert hier Begriffe wie ,Artgemeinschaft‘ und ,artfremd‘ und sieht auch hier, und wohl nicht ganz zu Unrecht, Anzeichen für einen Antisemitismus von links.“ Die Anmerkung bezieht sich auf einen Satz Peter Rühmkorfs; 1962 schrieb er, dass Celan „sicher als Ausnahme nicht nur unter dichtenden Zeit-, sondern auch Artgenossen anzusprechen ist“. Der Vorgang sorgt nun für Aufregung.
Das Stichwort lautet natürlich Antisemitismus. Gegen den von Wiedemann erhobenen Vorwurf des Antisemitismus hat sich Peter Rühmkorf in einem offenen Brief verwahrt. Darin heißt es: „Was seinerzeit gemeint war, war ganz unmissverständlich ein ,Genossen in artibus‘ gewesen [...]. Ich meine, wer das allen Ernstes als antisemitische Wendung liest, der kann nicht mehr ganz bei Trost sein und sollte sich lieber mal das eigene Okular richten lassen. Wenn Celan das seinerzeit so empfunden hat, was ja offenbar der Fall zu sein scheint, muss ich das hinnehmen, Pseudologia phantastica war es trotz alledem. Wenn dann aber eine Wissenschaftlerin hinzutritt [...] und den denunziatorischen Wirrsinn noch durch die windige Behauptung zu stützen sucht: ,und sieht auch hier, wohl nicht ganz zu Unrecht, Anzeichen für einen Antisemitismus von links‘, dann begibt sich dies ,nicht ganz zu Unrecht‘ selbst ins Unrecht.“
Es lohnt sich, diesen Brief genau zu lesen. Hinter gehörigem Sprachdampf enthält er im Wesentlichen eine Aussage: Der Sinn des Wortes „Artgenossen“ sei eindeutig gewesen. Wenn das aber so war, warum ändert Rühmkorf das Wort dann in einer späteren Ausgabe des Textes in „Gattungsgenossen“ um? Und ist es wirklich so merkwürdig, wenn der Jude Paul Celan, als „Ausnahme“ unter den „Artgenossen“ angesprochen, aufmerkt? Rühmkorf zieht sich darauf zurück, keine böse Absicht gehabt zu haben. Dass auch aus guten Absichten schlimme Verletzungen entstehen können, weist er von sich. Und anstatt sich zu fragen, was Celan dazu veranlasst hat, es „so empfunden“ zu haben, gibt er die Denunziation mit der Wendung vom „denunziatorischen Wirrsinn“ nur zurück. Wirr war Celan aber damals keineswegs.
Die Anmerkung Barbara Wiedemanns ist in der Tat fragwürdig und unwissenschaftlich. Ihre Wendung vom „Antisemitismus von links“ ist nicht zu halten. Die 900 Seiten Material, die sie zusammengetragen hat, bleiben dennoch bestehen. Sie zeigen, in was für einer aufgeladenen Stimmung Rühmkorfs Text damals entstanden ist. Celan hatte eine jahrelange Affäre zu verdauen, in der ihm vorgeworfen wurde, ein purer Plagiator der Lyrik Yvan Golls zu sein. Vorwürfe, die, obwohl offenkundig nicht haltbar, im Umfeld der Verleihung des Büchnerpreises 1960 an Celan wieder hochkochten und mit dem Klischee einer per se unoriginellen, bloß nachgeahmten jüdischen Kunst gewürzt wurden. Ausgerechnet in einer solchen Atmosphäre spricht Rühmkorf 1962 im gleichen Text in der Folge des Zitats Celan die lyrische Originalität ab – das System seiner Schlüsselwörter sei „eigentlich nur ein Sortiment von Nachschlüsseln“. Damit hat er sich, wie der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb vor drei Jahren in einem Aufsatz formuliert hat, auf einen Typ von Argumenten eingelassen, „die in der Goll-Affäre Waffen geworden waren“.
Diese Hintergründe verschweigt Rühmkorf. Es ist auch nicht seine Aufgabe, an sie zu erinnern. Wer aber auf den Brief eingeht, sollte es schon tun. Jens Jessen hat sich allerdings in der Zeit dazu hinreißen lassen, Antisemitismusvorwürfe pauschaul für obselet zu erklären. Helmut Böttiger benutzt den einen Halbsatz in der FR dazu, Wiedemanns Publikation insgesamt in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Außerdem wittert er eine Intrige gegen Rühmkorf, für die allerdings keine Anzeichen vorliegen. Es sei denn, Böttiger zählt die beiden positiven Besprechungen von Wiedemanns Buch in der taz und der Zeit hinzu. Weil diese Besprechungen, so Böttiger, den Antisemitismusvorwurf „sofort übernommen“ hätten, habe Rühmkorf „so allergisch“ reagiert. Das kann allerdings kaum sein. Rühmkorf hat seinen Brief bereits am 10. Oktober geschrieben (allerdings erst später an die Presse gegeben), die taz-Rezension erschien am 14. November, die in der Zeit sogar erst am 23. November. Und es stimmt auch nicht, dass die Besprechungen den Antisemitismusvorwurf übernehmen würden. Im Zeit-Artikel kommt er gar nicht vor.
Es ist wohl an der Zeit, aus diesem System an Schuldvorwürfen und Unterstellungen auszubrechen. Das wäre man Paul Celan schuldig – und auch Peter Rühmkorf. Es war ja durchaus kein Witz, als diese Zeitung ihn zu seinem 70. Geburtstag auf ungewöhnliche Weise ehrte, indem sie durchgehend durch das ganze Blatt seine Gedichte druckte. Unsere Bewunderung für diesen großen, knorrigen Mann könnte kaum größer sein. Nur eins könnte sie steigern: Wenn es Rühmkorf unternehmen würde, nicht nur sich selbst reinzuwaschen, sondern auch Paul Celan in dessen Perspektive und deren eigenes Recht anzuerkennen.
Bis dahin gilt, was Jürgen Busche in der taz schrieb und was ein jeder in der Ausgabe vom 14. November dieses Jahres nachlesen kann. Auch Busche hat nämlich keineswegs den Antisemitismusvorwurf wiederholt. Er hat differenziert. Er schrieb: „Mag man auch Rühmkorf ein antisemitisches Motiv in der Polemik gegen Celan nicht unterstellen – die fehlende Sensibilität des Lyriker-Kollegen – wohlgemerkt: nach dem Plagiatstreit – ist schon schockierend.“ Mit diesem Vorwurf wird Peter Rühmkorf leben müssen. DIRK KNIPPHALS
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