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Ein kleiner Bezirksrichter

Sanders Sauls hat dem US-Vizepräsidenten wahrscheinlich die Tour vermasselt

Von kleinen Richtern, die große Fälle annehmen, geht eine eigenartige Faszination aus, die Faszination des Rechts, das die Macht in ihre Schranken weist. Deutsche kennen dergleichen aus der Anekdote um die „Mühle von Sanssouci“, wo ein Richter niemand Geringerem als Friedrich dem Großen untersagte, ein Bäuerlein zu enteignen, um sein Schlossareal zu arrondieren.

Vor Richter N. Sanders Sauls’ Gericht im Landkreis Leon in Florida erschien letzte Woche niemand Geringeres als der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika und bat darum, ihm den Wahlsieg in Florida und damit die Präsidentschaft über das mächtigste Land der Erde zuzuerkennen. „Dies ist ein Fall wie jeder andere“, sagte sein Richter. Und als der Anwalt des Vizepräsidenten den kleinen Richter bat, sich zu beeilen, weil seinem Mandanten die Zeit davonlief, antwortete der: „Wir Kreisrichter hier in Florida, wir arbeiten nicht 24 Stunden am Tag.“

Dann setzte er sich aber doch ein fast übermenschliches Pensum. Was eine 12-stündige Anhörung werden sollte, erstreckte sich über ein ganzes Wochenende. Am Samstag und am Sonntag hörte Richter Sanders Sauls die Argumente der Anwälte Bushs und Gores. Gores Leute hatten von Anfang an einen schlechten Stand bei ihm, weil sie ihn zur Eile drängen wollten: Er solle schon mal zählen lassen, urteilen könne er ja immer noch. Und als Richter Sanders Sauls ablehnte, wandten sie sich gleich ans höchste Gericht Floridas. Das hohe Gericht lehnte ab, Sanders Sauls zur Eile anzutreiben. Gores Staranwalt David Boies – der Mann, der Microsofts Bill Gates das Zittern gelehrt hatte – hatte seitdem keine guten Karten bei Sanders Sauls.

„Können wir das ganze juristische Brimborium weglassen und zur Sache kommen?“, fragte Sanders Sauls die in seinem Gerichtssaal versammelten Anwälte beider Seiten. Und als ein Statistiker, der für Gore aussagte, stundenlang Zahlen und Modelle entwarf, fragte er, die Augen zur Decke gerichtet: „Wie lang wird dieser Zeuge noch reden?“ Nach Beendigung von 14 Stunden Verhandlung am Sonntag muss Sanders Sauls dann doch die Nacht durchgearbeitet haben, denn Montagnachmittag erschien er mit schweren Tränensäcken unter den Augen und las stockend ein vernichtendes Urteil vor. In keinem Punkt gab er Gore Recht. Sein Urteil sei sauber begründet und gut formuliert, analysierten Fachleute. Jedes höherinstanzliche Gericht wird sich dessen Aufhebung gut überlegen wollen. Der kleine Bezirksrichter wird dem großen Vizepräsidenten wahrscheinlich die Tour vermasselt haben.

PETER TAUTFEST

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