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Kein anständiges Maß

DAS SCHLAGLOCHvon KERSTIN DECKER

„Anstand“ ist das Stück Torte beim Kindergeburtstag, das du nicht kriegen kannst

Woran erkennt der Einzelne, dass er nicht mehr zeitgemäß ist? Wenn ihm nicht länger dieselben Worte zur Verfügung stehen wie den anderen.

„Aufstand der Anständigen“, die Zeitungen mögen das Wort. Es klingt so revolutionär, so umstürzlerisch. Aber wen stürzen wir, gemeinsam mit unserem Kanzler? Wer ist an der Macht? Seit der Kanzler das Wort erfand, fragen die Medienaktivisten jeden zweiten Tag: Wo bleibt denn nun der Aufstand der Anständigen? Weil ungefähr jeden zweiten Tag etwas geschieht, was das Empfinden der Anständigen empört.

Was ist das Empfinden der Anständigen? Noch vor ein paar Wochen, bevor unser Kanzler uns die neuen Worte gab, hätte ich es gewusst: Das Empfinden der Anständigen ist natürlich das gesunde Volksempfinden. – Aber darf man so was noch denken? Denken ist unanständig. Meistens.

Seien wir unanständig, ein allerletztes Mal, und fragen: Herr Bundeskanzler, seit wann machen die Anständigen Aufstände? Aufstände und Revolutionen sind absolut unanständig. Das weiß jeder Anständige. Und jeder 68er. Aber Gerhard Schröder war eben kein richtiger 68er. Der typische Anständige ist ein Vertreter der gemäßigten Mitte. Schon wieder die Mitte. Hat sie jetzt also auch das Revolutionspatent? Ist sie darum – so neu?

Herr Bundeskanzler, wir müssen noch einmal darüber reden. Man kann nicht einfach neue Worte – sollen wir sagen: Leitworte? – schöpfen und sich dann nicht mehr um sie kümmern.

Zurück an die Anfänge! Etymologen machen das auch. Wir sollten fragen: Wann begegnete uns zum ersten Mal das Wort „Anstand“? Richtig. Auf unseren Kindergeburtstagen. Nimm niemals das größte Stück Torte! Nimm niemals mehr als drei Stückchen Torte! Vor allem aber: Niemals das letzte Stück Torte!

Noch immer sehen wir es auf dem Teller liegen in der ganzen Aura seiner Unerreichbarkeit. Und wir wussten es augenblicklich: Der Anstand ist genau das Stück Torte, das du nicht kriegen kannst.

Ja, mag sein, wir hatten schon früh ein nicht ganz gelassenes Verhältnis zu ihm. Aber wir vergaßen es nie mehr: Anstand ist ein Nichttun, ein Unterlassen, eine Passivität. Ja, wahrscheinlich sogar – horribile dictu – ein Wegschauen, denn wie sonst wäre die Anwesenheit der süßen Mitte auszuhalten gewesen? Allein seine Ursurpation wäre eine revolutionäre Tat gewesen. Ein großes: Trotz alledem! Wie alle Aufstände.

Nein, Herr Bundeskanzler, Anständige zetteln keine Aufstände an. Sie fügen sich einem Konsensus, einer Mehrheit. Verrät also das Wort vom Aufstand der Anständigen ungewollt mehr über uns, als uns lieb ist? Über unsere sagenhafte Mittigkeit?

Mitten sind angenehm. Sie sind überhaupt der einzige Ort auf der Welt, wo man keine Gefahr spürt. Und die Abgründe nicht sieht, auch nicht, schon gar nicht, die eigenen. Der Anständige führt nichts auf sich selbst zurück, aber alles auf die anderen. Er fragt nicht: Was haben die anderen mit uns zu tun? Denn kein Anständiger hat je etwas mit den Unanständigen gemein. Das definiert ihn. Der Begriff des Anstands stellt eine Weltenscheide her. Wir gehören nicht zu denen. Wirklich nicht? Gehören unsere Kinder, die neuen rohen Jungs, nicht zu uns? Oder sind sie zu sehr Kinder dieser Gesellschaft, als dass wir das wahrhaben wollten?

Ach, Herr Bundeskanzler. Anständig denken ist wirklich fast unmöglich. Erinnern Sie sich noch an Himmlers Rede an die SS im Angesicht von Auschwitz? „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.“ Natürlich ist es unanständig, mit diesem Zitat zu kommen, nur weil man es immer mithört, wenn jemand „anständig“ sagt. Es sprengt jedes Maßverhältnis. Das Maß des Angemessenen also. Und was hätten wir nötiger als endlich wieder ein Gespür für Maßverhältnisse? Sie, Herr Bundeskanzler, haben Frau Kantelberg-Abdulla empfangen. Als Opfer rechter Gewalt? Nein, aufgrund des Verdachts, sie könnte ein Opfer rechter Gewalt sein. Das war eine große moralische Geste und ein kultureller Siebenmeilenschritt. Er markierte unseren endgültigen, nahezu bedingungslosen Eintritt ins Moralische-Gesten-Zeitalter. Zeitgleich zerstob der Verdacht. In Amerika würde die Stadt Sebnitz jetzt wegen Rufschädigung klagen. Wie weit ist es noch bis Amerika?

Himmler also. Man liest diese Himmler-Sätze, liest sie noch einmal und versteht sie trotzdem nicht. Was soll hier Anstand bedeuten? Bis es plötzlich ganz klar wird: das Funktionieren; das Nicht-nach-links-und-rechts-Schauen. Den Blutrausch hätte Himmler vermutlich für unanständig gehalten. Viel zu expressiv. Anstand ist kein Extrem, er ist eine Passivität. Eine dirigierte Passivität.

Die Alten, Adorno oder Benjamin, hätten noch ohne Zögern den Faschismus geradewegs aus dem Begriff des Anstands heraus erklärt. Für sie gehörten der Anstand, das Nicht-für-sich-selbst-Stehen und die „autoritäre Persönlichkeit“ zusammen. Sie bezeichneten die anonyme Welt des „man“. Oder genauer: die Ich-entlastete Welt des „Das macht man nicht“.

Am Sonnabend hatte in Berlin das neue Elfriede-Jelinek-Stück Premiere. Es heißt „Les Adieux“ und ist eine Abrechnung mit Jörg Haiders Österreich. „Die Anständigen, die Tüchtigen und die Fleißigen“ – hier, bei Jelinek, stehen sie wieder in einer Reihe, jene Sekundärtugenden, mit denen sich, wie einer gesagt hat, auch ein Konzentrationslager leiten lässt.

Das Empfinden der Anständigen istnatürlich das gesunde Volksempfinden

Anständig, tüchtig, fleißig. – Müssen sich die aufständigen Anständigen das wirklich anhören? Natürlich nicht. Die Parallele, so stehen gelassen, ist genauso irrwitzig wie der Ruf „Es ist wieder so weit!“ in unseren Zeitungen angesichts eines geschändeten jüdischen Grabsteins. Die Rufe mehren sich. Die geschändeten Grabsteine auch. Und wenn es nicht so verdammt unanständig klänge, würde man aussprechen, was fast jeder ahnt: dass das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Vergangene Zeitalter kannten das Summum Bonum, das höchste Gut. Man sagt, unser multimediales Beschleunigungszeitalter hat es verloren. Aber das stimmt nicht, es existiert noch immer. Das Summum Bonum in der Medienwelt ist die Aufmerksamkeit. Die jungen Rechten bekommen sie gratis. Eine Sprühdose genügt für eine Schlagzeile. Und ein Verdacht genügt für die Titelseiten, landauf, landab.

Gelassenheit. Ist sie eine Tugend? Für Revolutionäre und Anständige ist sie der Urfeind. Sie kennen das Wort „Gelassenheit“ nicht. Sie übersetzen es mit „Nachlässigkeit“ in ihre Welt. Mit „mangelnder Wachsamkeit“ gar? Jede Welt hat ihre Sprache.

Aufstände stürzen die Mächtigen. Wen stürzt unser Aufstand der Anständigen? Die eigenen Kinder? Die neuen Martialisch-Ohnmächtigen? Nein, „Anstand“ ist ein zu hoffnungslos verdruckstes Wort. Und sein Alter Ego ist: die Ignoranz.

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