: Mundgeblasen
Türmer auf dem Michel sorgen für das, was man Weihnachtsstimmung nennt ■ Von Stefan Rychlak
Vor 300 Jahren waren sie die Zeitansage für die Bürger der Stadt. Zu jeder vollen Stunde gaben sie in alle vier Himmelsrichtungen ihre Signale. Türmer gibt es heute in Deutschland nur noch wenige. In Hamburg blasen sie nur noch vom Turm des Michel, dem Wahrzeichens der Hansestadt: Morgens um 10 Uhr und abends um 21 Uhr steigen Josef Thöne und Horst Huhn mit ihren Trompeten auf den rund 60 Meter hohen „Bläserboden“ und spielen in vier Richtungen je eine Strophe eines Chorals. Über die Dächer der Innenstadt, über die Kräne und Schiffsmasten im Hafen und über die Elbe hinweg in den Morgen- und Abendhimmel. Zur Vorweihnachtszeit stehen Advents-Choräle auf dem Programm – das sorgt für so etwas wie Weihnachtsstimmung rund um den Michel. Und die ist etwas echter als beim Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus.
„In den Anfängen des Turmblasens ging das nicht“, erzählt Hans- Heinrich Fiedler. Das 71 Jahre alte Hamburger Original arbeitete als Küster in St. Michaelis und übernahm 1958 das Amt des Michel-Türmers. „In den Anfängen des Turmblasens vor rund 300 Jahren konnte man auf den Trompeten noch keine Melodien spielen, weil die Instrumente nur sechs Töne hatten“, erzählt er. Erst mit der Erfindung der Trompete mit Ventilen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden von Deutschlands Kirchtürmen Choräle zum Besten gegeben. Fiedler: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hörten die meisten Turmbläser auf.“
Auch mit Beschwerden von Anwohnern haben die Hamburger Türmer manchmal zu tun. Allerdings fühlt sich niemand belästigt: „Wenn wir aus irgendwelchen Gründen mal nicht blasen, rufen schon mal die Leute an und fragen, was denn los ist“, erzählt Josef Thöne schmunzelnd.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Kollegen haben die Michel-Türmer seit 1912 eine wesentliche Arbeitserleichterung: einen Aufzug. Auf dem Bläserboden angekommen, machen die Trompeter sich und ihre Instrumente erstmal „warm“. In luftiger Höhe herrscht ein frischer Wind. „Aber wir spielen bei jedem Wetter, uns kann nichts aufhalten“, sagt Thöne. „Regen, Sturm oder Schnee sind halb so wild, aber bei herber Kälte frieren schon mal die Finger ein“. Dabei „klettern“ die Bläser nur sehr selten auf die höchste, offene Ebene des Michel-Turms: „Ganz oben wird nur zu besonderen Anlässen oder bei besonders vielen Zuschauern gespielt“, erzählt Fiedler – das passiert nur ein paar Mal im Jahr.
In Dänemark wurde 1987 die Europäische Nachtwächter- und Türmerzunft gegründet, zu der auch Hans-Heinrich Fiedler gehört. Einmal im Jahr steht ein großes Zunfttreffen auf dem Plan. Demnächst dürfte das wohl auch in Hamburg mal stattfinden. Denn die Turmbläser vom Michel wollen ihre Tradition noch lange weiterführen, damit die Anwohner sich nicht über die fehlende „Turm-Musik“ beschweren müssen.
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