: War da was außer Daily Soap?
Wahrnehmungssplitter aufsammeln und ganz neu zusammensetzen: Andreas Beck über (an)laufende Schreibtheater-Projekte am Deutschen Schauspielhaus ■ Von Petra Schellen
Egal, was einer sagt: Am Anfang steht immer der subjektive Aufmerksamkeits-Spot eines Individuums, der – zufällig? – auf Länder, Texte, Leute fällt. Der Blick von Andreas Beck – seit dieser Spielzeit Leiter des Projekts „Schreibtheater“ am Deutschen Schauspielhaus – ist zum Beispiel auf die in Schweden aufgewachsene Slowakin Lucia Cajchanová gefallen, die eine eigenartige, biografisch bedingte Traditions- und Stilmischung praktiziert: „Sie führt Elemente des schwedischen Realismus und des slowakischen Surrealismus zusammen: Realität wird ins Surreale und wieder zurück gedreht, um jeweils winzige Nuancen verschoben, bis die Figuren selbst nicht mehr wissen, welcher Ebene sie angehören; daraus ergeben sich ganz merkwürdige Identifikations- und Verwicklungskomödien“, sagt Beck über die Autorin, die eine von vieren ist, die für die aktuelle Spielzeit engagiert sind und die „Abenteuergeist und Neugier“ mitbringen mussten. Und, teils, geflickte Biographien, wie Lionel Spycher, der, so Beck, polnische Vorfahren habe. Er betreibe eine „Poetisierung der Ironie“ und lade die Sprache mit ungekannten, dichten Bildern auf.
„Wichtig ist doch, dass diese Autoren – unter anderem, repräsentativ sein kann ein einzelner natürlich nie – die Sprach- und Wahrnehmungskultur ihres Landes hier bei uns vorstellen“, betont Beck. Oder schlicht Wahrnehmungsveränderugen – für Beck ohnehin zentrales Thema auf dem zeitgenössischen Theater. „Was die heutige Welt samt ihren Beziehungen so stark zerbröseln lässt, ist dieses unverbindliche gedankliche Antippen“ – Beck verabscheut und meidet das Wort „Andenken“ – „von Dingen. Da keimen Gedanken, die verlöschen, noch bevor sie aufgeglommen sind und die den Rückzug gleich nach der Geburt antreten und immer schön im Bequem-Unverbindlichen bleiben.“
Da sei einer wie René Pollesch, dessen siebenfolgige Live-Soap „world wide web-slums“ – derzeit in atemlosem Marathon aufgeführt im Rangfoyer – ungleich substanzieller: „Radikal zu Ende gedacht“ habe Pollesch darin Tempo und Sprache des 21. Jahrhunderts, habe „rückhaltlos in der Logik unserer Zeit“ geschrieben und im Alltag üblicherweise nur Angetipptes bitter zu Ende gedacht. Und solches Prozedere verstehe er, Beck, letztlich als modern: „den Mut zu haben, die Dinge zu Ende zu denken und zu formulieren – und dabei auch jene Veränderungen zu integrieren, die das Big-Brother-Phänomen unserem Alltag zugefügt hat. Die Gesellschaft hat vermutlich noch gar nicht begriffen, in welchem Ausmaß dies unsere Wahrnehmung verschoben hat, auch nicht bemerkt, dass der Film inzwischen als realistischer gilt als das Theater.“
Die Chance des Theaters dagegen? „Seinen Live-Charakter zu zelebrieren und genau dadurch eine eigene Form von Authentizität zu erschaffen.“ Gesellschaftliche Veränderung durch Theater? „War mal ein Tagtraum der Dramaturgen, ist längst ausgeträumt.“ Das entscheidende Moment am Theater sei, wie Beck beteuert, das „auslösende Sprechen“ – Worte und Sequenzen, die, vielleicht, veränderte Wahrnehmung initiieren und den Blick für alles Umgebende schärfen könnten. Und das sei – fast klingt's schon religiös – doch letztlich wichtig an unserer flüchtigen, diesseitigen Existenz: „Wir denken viel zu selten daran, dass wir hier nicht ewig sind“, sinniert Beck mal zwischendurch. Und ein bisschen berge das, so meint er, doch die Verpflichtung, während dieser kosmischen Sekunde wenigstens genau wahrzunehmen, was um einen herum passiert. Und sich vielleicht auch über den Begriff „Authentizität“ neu klar zu werden, Selbstinszenierung wieder von unverstelltem So-Sein unterscheiden zu lernen.
Auch sind weder Beck noch seine Autoren so traditionsstürmerisch, wie man vielleicht glauben könnte: Sieben Todsünden heißt – frei nach dem Gemälde von Hieronymus Bosch – das siebenteilige Stück des argentinischen Autors Rafael Spregelburd. Die Sequenzen Appetitlosigkeit, Überspanntheit, Bescheidenheit sind schon in der Welt; in den Geburtswehen liegt gerade die vierte, die während seiner Hamburger Zeit entstehen soll. Formal verschieden sind sie alle sowieso und reichen, so Beck, „von der schnell getriebenen Farce bis zum Monolog“.
Was von den Autoren der kommenden Spielzeit – drei von vieren sind schon gefunden – zu erwarten ist? „Groteske Stücke mit Witz und Bildkraft“ liefere Gian Maria Cervo, erklärt Beck, „versponnen und eigen“ bringe der italienische Autor Themen wie Sinnlichkeit und Wahrnehmung auf die Bühne. „Eine neue Art persönlich aufgeladener Komödie“ präsentiere dagegen Jewgenij Grischkowetz: „Der russische Schriftsteller geht sehr ironisch mit sich selbst um, erscheint als Figur auch immer wieder in seinen Stücken und stilisiert sich so mehrfach“, wie Beck betont. „Die Figuren sehen sich im Kontext der Verhältnisse.“
Und schließlich werde in der kommenden Spielzeit Roland Schimmelpfennig für das Schauspielhaus schreiben: „Der ist verliebt in das Thema Theater und spielt wie ein freudiges Kind mit dessen Maschinerie.“ Duftig seien Schimmelpfennigs Stücke, leicht, aber nicht naiv. Einer, der das Geheimnis des Theater erhält, indem er es punktweise erhellt? Möglicherweise. Vielleicht.
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