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Im neuen Osten angekommen

Die Glitzerfassaden des „Neuen Kranzler Eck“ sind ein Symbol für den Aufschwung West: Weil er sich nach dem Vorbild des Ostens verändert hat, bekommt der Ku’damm wieder eine Chance – auch ohne die Nachhilfe des Regierenden Bürgermeisters

von RALPH BOLLMANN

Die Politik hat wieder etwas länger gebraucht. Nach einem Jahrzehnt des Aufbaus Ost sei jetzt wieder Ausbau West angesagt – so lautete die frohe Weihnachtsbotschaft des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU). Doch der Aufschwung, den Diepgen herbeireden will, ist längst in vollem Gange.

Jüngstes Beispiel ist das „Neue Kranzler Eck“, das gestern eingeweiht wurde. Der Hochhausriegel, zu dessen Füßen ein ganzes Einkaufsquartier neu entstanden ist, ragt hinter der alten Kranzler-Rotunde auf wie der in Beton gegossene Beweis, dass der Kurfürstendamm seine besten Zeiten noch keineswegs hinter sich hat. Schräg gegenüber wächst mit dem neuen Ku’damm-Eck schon das nächste Ausrufezeichen aus dem Boden.

Wortreich beklagten die Medien in den letzten Jahren den Niedergang der einstigen Prachtmeile. Kaum haben Investoren ein paar Glitzerfassaden hochgezogen, dreht sich der Wind im Blätterwald: Plötzlich wird die Renaissance eines Stadtviertels beschworen, das schon vor hundert Jahren „neuer Westen“ hieß.

Wie schnell die Trends auch kommen und gehen – eines hat sich nie geändert: Die nackten Zahlen sprachen immer für den Westen. Selbst auf dem Höhepunkt der angeblichen Krise ächzten zwischen Ku’damm und Tauentzien zehnmal mehr Passanten unter der Last ihrer Einkaufstüten als auf der angeblich so trendigen Friedrichstraße.

Das Zusammenwachsen der Stadt, die sich so gern als „Werkstatt der Einheit“ feiert, verlief nach den gleichen Gesetzen wie die Vereinigung des ganzen Landes: Wie viele Milliarden die öffentliche Hand auch in die östlichen Bezirke pumpen mochte – der Westen blieb immer die tragende Säule der Stadt.

Das gilt selbst für jene Institutionen, die gerne als Leuchttürme des Ostens gehandelt werden. Forschung und Lehre an der Humboldt-Universität beispielsweise wären im vergangenen Jahrzehnt kaum möglich gewesen, hätten Professoren und Studenten nicht auf die reich ausgestatteten Bibliotheken im Westen zurückgreifen können.

In der Landespolitik kommen Ostberliner, von Quotensenatorin Gabriele Schöttler (SPD) einmal abgesehen, ohnehin kaum noch vor. Aber auch auf wirtschaftlichem Gebiet gibt der Westen nach wie vor den Ton an. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Osten Berlins nur deshalb vergleichsweise niedrig, weil es im Westen genügend Jobs für die Berufspendler aus den östlichen Bezirken gibt.

Gerade deshalb ist es aber eine interessante Frage, warum Ostberliner größere Chancen haben, einen der raren Westberliner Arbeitsplätze zu ergattern. Offenbar haben sich die Ostberliner an das rasante Tempo der neuen Ökonomie schneller angepasst. Sie mussten sich nach dem Fall der Mauer ohnehin daran gewöhnen, dass nichts bleibt, wie es ist – während sich die Westberliner noch als Sieger der Geschichte wähnten und glaubten, es müsse sich nichts verändern.

Zehn Jahre des schleichenden Niedergangs mussten vergehen, bis der Wandel auch im Westen angekommen ist. Nur weil er sich ebenso drastisch verändert hat wie zuvor der Osten, hat der Ku’damm plötzlich wieder eine Chance. Das neue Stadtviertel am Kranzler Eck mit seinen Einkaufspassagen und „flexiblen“ Arbeitsplätzen verkörpert den neuen Kapitalismus nach amerikanischem Muster – doch hierzulande ist diese Form der Ökonomie zuerst im Osten heimisch geworden. Der Westen hat nur dann eine Zukunft, wenn er verostet: Das ist eine Botschaft, die für eingefleischte Westberliner höchst schmerzhaft sein muss.

Und es stimmt ja, dass die Veränderung im Westen auch ihre Schattenseiten hat. Es mag wenig Gründe geben, dem piefigen Café Kranzler von einst hinterherzutrauern. Aber die Großzügigkeit, mit der gemächlich ihren Kaffee schlürfende Omas die Gesetze der Quadratmeter-Rendite außer Kraft setzten, hatte etwas Rührendes. Jetzt ist das Café auf ökonomisch verträgliches Miniformat geschrumpft.

Auf solche Verlustgefühle spekuliert Eberhard Diepgen nicht erst seit gestern. Ihnen verdankt er seit zehn Jahren die politische Mehrheit. Hätte der Senat jedoch mehr für den Westen getan, als er ohnehin schon tat – es wäre fatal gewesen, und zwar vor allem für den Westen selbst: Ohne den heilsamen Zwang der leeren Kassen wären die Westberliner niemals bereit gewesen, auch nur das kleinste Stückchen von ihrem „Weiter so“ abzurücken. Jetzt ist der Aufschwung da – und der Westen hat das Geld, das Diepgen ihm anbietet, gar nicht mehr nötig. Zum Glück: In der klammen Landeskasse wäre es ohnehin nicht vorhanden.

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