: Narben der Verfolgung
Minderheiten, Homosexuelle oder Juden, nehmen politische Liberalisierung oft mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Die Angst, die Zeiten der erbarmungslosen Verfolgung kehrten wieder, sitzt tief
von JAN FEDDERSEN
Politische Siege werden hierzulande meist sportlich genommen. Können sich bei der einen Auseinandersetzung die Gewerkschaften gegen die Kapitalistenseite eher durchsetzen, sind es bei anderer Gelegenheit die Arbeitgeber, die aus einem Streit begünstigt hervorgehen. Fantasien von Tod und Abgrund würde keiner der Kontrahenten im Fall einer Niederlage hegen.
Im Falle der im Grundsatz gefällten Entscheidung, für homosexuelle Paare ein neues familienrechtliches Institut namens „Eingetragene Lebenspartnerschaften“ zu schaffen, fanden sich gemischte Reaktionen. Viele begrüßten dieses vorläufige und erfolgreiche Ende einer seit zehn Jahren dauernden Debatte. Einige wussten den gewonnenen Streit auch politisch als Zeichen zu deuten, das über die politische Sphäre hinaus ermöglichen kann, Homosexuelle nicht mehr als Sonderlinge zu identifizieren.
Andere Kommentatoren zeigten sich nicht nur vorsichtiger, vielmehr bewerteten sie die so genannte Homoehe als Trick, der über den wahren repressiven Charakter der Bundesrepublik hinwegtäusche. „Was hat die große Öffentlichkeit bewogen, so viel Kreide zu fressen?“, hieß es in einem keineswegs satirisch gemeinten Text auf der „Wahrheit“-Seite der taz. „Jene, die noch vor kurzem Sexmonster, Virenschleudern und Verräter am eigenen Geschlecht waren, können sich plötzlich nicht mehr retten vor der gewaltigen Umarmung“, so der Text weiter.
Schon hinter dem Bild von der Kreide fressenden Öffentlichkeit, die, so ist es wohl zu verstehen, in Wirklichkeit Homosexuelle am liebsten wie beim Barras anbellen würde, verrät ein für einst mörderisch verfolgte Minderheiten typisches Phantasma: die Vorstellung von der Verfolgung, die niemals endet. Auch die an dieses misstrauische Bild geknüpfte Feststellung, dass diejenigen, die Schwule und Lesben öffentlich über die Medien schmähten, inzwischen sie umarmten, zeigt, dass der Glaube an einen Mentalitätswechsel, wenigstens einen im Verhältnis zum Alltagsbewusstsein im Nationalsozialismus, nicht nur begrenzt ist, sondern offenkundig auch für wenig plausibel gehalten wird.
Auch das wütend nachgereichte Argument aus diesem Kommentar, dass „diesen Befürwortern der neuen Toleranz die soziale und sonstige Lage der Homosexuellen ganz locker am Arsch vorbeigeht“, verfehlt den Gegenstand einer politischen Analyse. Erstens kommt es purer Spekulation gleich, dass die so genannte neue Toleranz sich um die „soziale und sonstige Lage“ (was auch immer dies meint) von Schwulen und Lesben nicht bekümmert. Aber zweitens ist es doch größenwahnsinnig, von allen Menschen alle Aufmerksamkeit zu verlangen. Kann schwulen Männern, lesbischen Frauen die – im schlimmsten Fall – Homophobie von Nachbarn und Kollegen nicht gleichgültig bleiben, solange sich diese nicht in Form von Denunziationen oder diskriminierenden Belästigungen gegen sie auswirkt?
Den kritischen Äußerungen ist anzumerken, dass einer dem gewordenen Frieden nicht traut. Zur Sprache kommt eine klassische Haltung von Minoritäten, deren Mitglieder schon aus Gründen der realistischen Einschätzung ihres Gegenübers eine lebensnotwendige Sensibilität kultivieren mussten. Diese Feinnervigkeit ist nicht allein Homosexuellen eigen, sie gehört zum Wahrnehmungsarsenal gleichfalls von Juden. Anders als Dunkelhäutigen war ihr Makel innerlich zugeschrieben und nicht gleich erkennbar: Homosexuelle und Juden taten dementsprechend meist alles, um unerkannt zu bleiben. Sie mussten – und müssen oft noch! – jede Alltagssituation daraufhin taxieren, ob sie gerade für Homosexuelle oder Juden günstig ist.
Das war keine übertriebene Empfindlichkeit, erst recht keine Feigheit, sondern lebenswichtig. Im Dritten Reich, wo schwule Männer verfolgt und umgebracht wurden, in den Konzentrationslagern den Rosa Winkel tragen mussten. Das war für jeden Juden wichtig, der nie wusste, ob sein Chef oder sein Nachbar nicht doch antisemitisch gestimmt ist.
Diese langwierige Anpassungsleistung war von einem profunden Selbsthass begleitet. Tiefe Aversionen hatten assimilierte deutsche Juden gegen ihre chassidischen Religionsgeschwister aus Osteuropa, hatten angepasste homosexuelle Männer gegen Schwule, die sich scheinbar nicht darum scherten, was ihre Umwelt von ihnen hält, und auch keine Angst hatten, sich als homosexuell zu outen.
Doch dieses kollektive Wissen um die Gefahr, die außerhalb der eigenen Szene Angehörigen von Minoritäten droht, ist wenig korrigierbar. Es hat in den vergangenen Jahren eine Zunahme von antisemitischen Anschlägen gegeben. Doch die Bundesrepublik am Vorabend eines Pogroms gegen jüdische Bürger zu sehen? Gar, wie Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, öffentlich nach einem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge zu fragen, ob für Juden überhaupt noch Platz sei in Deutschland?
Derartige Phantasmen werden noch lange weiterleben. Sie haben präventive Funktion, darauf hat der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker hingewiesen. Die Zeit der Verfolgung war zu lang, und sie war zu gründlich, als dass ein flüchtiger Zeitraum der Liberalisierungs- und Aufklärungsmühen von gut fünfzig – beziehungsweise, im Fall der Homosexuellen, gut dreißig – Jahren schon als Beweis für die gesellschaftliche Integration von Minderheiten gelten könnte, der Sicherheit verhieße. Es sind Narben der Verfolgung, Marks of Oppression, wie der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin sie genannt hat. Narben, die durch eine durchaus kontroverse, seitens der rot-grünen Fraktionen durchweg empathischen Haltung Homosexuellen gegenüber nicht weniger fühlbar geworden sind.
Tatsächlich genießen jüdische Deutsche, anders als vor der Ära des Nationalsozialismus, die Solidarität der meisten nichtjüdischen Deutschen. Und ebenso lässt sich mit guten Gründen feststellen, dass die politische Hatz auf Homosexuelle nicht mehr existiert. Selbst die Union, die ihre Zeit in der Opposition auch braucht, um sich an die Vielfalt der Lebensformen zu gewöhnen, bedauerte vor drei Wochen in einer Bundestagsresolution die Kriminalisierung Homosexueller im Dritten Reich, aber auch unter der demokratischen Regentschaft des CDU-Kanzlers Konrad Adenauer.
Fatal wird das homosexuelle Phantasma, nichts habe sich geändert, weil die Heterosexuellen ihre dunklen Abgründe nur mit Kreide zu weißen gelernt hätten, allerdings dann, wenn jedes Projekt zu einer Liberalisierung schon deshalb diffamiert wird, weil alle, wie es in der taz weiter hieß, „die Linken wie Rechten, Liberalen wie Konservativen, Aufgeklärten wie Hinterwäldler, Jungen wie Alten, ja auch, Männer wie Frauen“, doch gleich seien. Davon abgesehen, dass sich diese Aussage schon empirisch nicht halten lässt und dass in ihr kaum mehr als sentimentaler Hass auf die Feindgruppe „Heterosexuelle“ enthalten ist, steckt darin auch eine Absage an die Mühen der Aufklärung, an Bündnispolitik schlechthin.
Und gerade diese wäre nötig, um die politische Debatte um die Eingetragenen Partnerschaften auch gesellschaftlich weiter zu führen. Paul Parin hat darauf hingewiesen, dass Schwule und Juden, die nicht in Israel leben, ähnliche psychische Muster zeigen: Sie haben das stete Gefühl, nicht dazuzugehören, sie fühlen sich als Fremde in einer Welt, die nicht die ihre sein soll. Homosexuelle haben noch viele Themen zu erörtern – vor allem mit sich selbst.
Sie werden sprechen müssen über ihr Gefühl von Fremdheit. So wie Juden dies auch zum Gegenstand ihrer Debatte machen: Kann man sich in Deutschland heimisch fühlen? Homosexuelle werden sich diese Frage auch stellen müssen, haben sie erst einmal verdaut, dass es nicht mehr nur darum geht, die eigene Infrastruktur zu verteidigen – auch wenn dies selbstredend nicht vernachlässigt werden darf –, sondern auch das Maß an Gewalt, das ihnen im Alltag immer noch begegnet, nicht mehr nur hinzunehmen. Viele der älteren Homosexuellen lernen erst allmählich zu begreifen, dass es keinen Grund mehr gibt, sich insgeheim selbst für ihr Schwulsein schuldig zu fühlen.
Psychologen wissen gerade über solche Patienten viel zu berichten, die ihr Coming-out traumatisch erlebt haben – und sie meinen damit nicht nur solche, die ihre Homosexualität vor der 1969 erfolgten Reform des Paragrafen 175 (Tilgung der Nazifassung) entdeckten. Der Psychologe Wolfgang Hegener hat nur eingeschränkt Recht, wenn er feststellt, manche Coming-outs verliefen heute ähnlich undramatisch wie eine durchschnittliche heterosexuelle Pubertät: also mit den üblichen Irritationen beim Übergang vom Kind zum Erwachsenen.
Nicht mehr das Ganze wird in Frage gestellt. Das Kleingedruckte, salopp formuliert, bleibt einstweilen für viele durchaus real. Es gibt weiter Häme und Spott aus dem Kollegenkreis. Es gibt Prügel bei der Bundeswehr. Missachtung in vielen Familien, Sprach- und Lieblosigkeit. Nichts deutet darauf, dass diese Klagen bei Heterosexuellen auf taube Ohren stießen. Viele Familienrichter entscheiden längst nicht mehr im Falle eines Sorgerechtsstreits gegen den homosexuellen Vater, die homosexuelle Mutter.
Aber wer will, alles in allem, ernsthaft bestreiten, dass es Homosexuellen in Mitteleuropa, also auch in Deutschland, nie so gut gehen konnte wie heute. Das Thema eignet sich selbst in der Union nicht mehr zum Skandal. Dass Schwule und Lesben nicht allein mit Garantieversprechen glücklich werden können, liegt ohnehin nicht an Staat und Gesellschaft, allen Marks of Oppression zum Trotz. Aber von dieser Enttäuschung wissen auch Heterosexuelle zu berichten: Die Trauben für diesen Zustand des unendlichen Wohlseins hängen ziemlich hoch.
JAN FEDDERSEN, 43, ist taz.mag-Redakteur
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