: Von der Eigenmacht der Wörter
■ Oskar Pastior, einziger deutscher Vertreter der „Werkstatt für potenzielle Literatur“, liest heute Abend im Literaturhaus neue Gedichte mit Blaupausen
Die Verbindung eines „mathematischen Deliriums mit poetischer Logik“ rühmte einst der französische Schriftsteller Raymond Queneau an seinem Vorbild Raymond Roussel. Genauso gut hätte er allerdings das doppelte Oxymoron auch zur Beschreibung jenes Subkomitees der pataphysischen Schule Alfred Jarrys nehmen können, das Queneau Anfang der 60er Jahre gemeinsam mit dem Mathematiker François Le Lionnais in Paris gründete.
„Werkstatt für potenzielle Literatur“, „Ouvroir de Littérature Potentielle“ oder auch einfach Oulipo, nannten die Schriftsteller ihren Zweig der avantgardistischen Literatur, der eine radikale Absage an überholte literarische Formen darstellte. Entgegen den Surrealisten, die im automatischen Schreiben die Überwindung erstarrter Regeln suchten, erfanden die Oulipisten neue hinzu. Sie unterwarfen das Sprachmaterial zum Beispiel Restriktionen, die weit über herkömmliche Vorgaben wie das Reimschema eines Sonetts hinausgingen. Berühmtestes Beispiel dieses strengen, aber immer spielerischen Umgangs mit Sprache dürfte nach wie vor Georges Perecs Roman La disparition sein (dt.: Anton Voyls Fortgang), in dem kein einziges „E“ vorkommt.
Der Lyriker Oskar Pastior ist das einzige deutsche Mitglied dieser illustren Werkstatt, die auch heute noch monatliche Treffen abhält. Wenn er heute Abend im Literaturhaus aus seinem neuen Gedichtband Villanella & Pantum vorträgt, darf man also gespannt sein auf die seltsamen Kapriolen, zu denen die deutsche Sprache fähig ist, wenn ihre Wörter erstmal ihrer semantischen Gefängnisse gründlich ledig sind. Wie Pastior in einer Anmerkung seines Bandes erläutert, „sollte man beim Titel nicht unbedarfterweise an Die Schöne und das Biest denken; selbst wenn Villanella so graziös libellenhaft klingt und man beim Pantum gleich sowas wie ein Panthertier oder (Pan-tum) gar das Wesensgehabe jenes mythologischen Ziegenbocks vermuten könnte.“
Stattdessen handelt es sich bei der Villanella um ein neapolitanisches Bauernliedchen, beim Pantum um eine von den malaiischen Inseln stammende Gedichtform, die Pastior als Blaupausen für eigene lyrische Experimente dienen. Beiden Formen ist gemein, dass sie mit ihren strengen Wiederholungsstrukturen verschiedene Zeilen durch den gesamten Textkorpus schütteln und somit wunderbar dazu dienen, Pastiors oulipistische Neugier an der Eigenmacht der Wörter zu befriedigen. Denn für Pastior ist es eine „Unart Ä...Ü, von Wiederholung zu sprechen“, kein Wort, keine Silbe, keine Zeile ist ihm identisch mit sich selbst, und gerade mit ihren gestrengen Rekursionen „fordern diese Blaupausen nun direkt dazu heraus, die Nichtidentität mit anderen Mitteln sichtbar zu machen“. Aus dem engen Kerker der selbst gewählten Form entspringen so die ihrer Lexikonhaftung verlustig gegangenen Wörter, die die Stimme ihres Meis-ters heute Abend endgültig in die Freiheit entlässt.
Volker Hummel
Oskar Pastior: Villanella & Pantum, Hanser, 115 Seiten, 28 Mark
Lesung von Oskar Pastior heute, 20 Uhr, Literaturhaus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen