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Stiche gegen die Taliban

aus Kabul JAN HELLER

Winter in Afghanistan ist keine erfreuliche Jahreszeit. Zwar tanzten im Dezember die Bewohner Kabuls auf den Straßen, als seit drei Jahren erstmals wieder reichlich Schnee fiel – der in Frühjahr und Sommer die Flüsse und Bewässerungssysteme in dem seit drei Jahren von einer extremen Dürre geplagten Land füllt. Aber wenn es nicht bald mehr schneit, droht laut UN-Welternährungsprogramm einer Million Afghanen der Hungertod. Der Schnee auf den Bergen, die das fast 2.000 Meter hoch gelegene Kabul einschließen, ist vorerst also nur eine Hoffnung auf bessere Zeiten.

Afghanistans winterlicher Alltag wird weiterhin vor allem von Problemen regiert. Gegen acht Uhr früh, die Morgensonne wärmt noch immer nicht richtig, kauern an einer Kabuler Straßenecke ein paar Dutzend Männer, gegen die Kälte so tief in Decken gehüllt, dass nur noch die Nasenspitzen hervorlugen, und warten auf ein Wunder. Die wenigen Arbeitgeber haben schon zwischen fünf und sechs Uhr ihre Tagelöhner geheuert. Und während der Konkurrenzdruck durch Zuwanderer aus den Dürregebieten dafür sorgt, dass auch die Löhne der wenigen, die einen Job ergattern, sinken, steigen gleichzeitig die Preise für Brennstoffe und Grundnahrungsmittel.

In diesem Winter kommen erschwerend die verschärften UN-Sanktionen hinzu, die der Sicherheitsrat am 19. Dezember beschloss und die gestern in Kraft getreten sind. Die regierenden Taliban machen sie für die Verschlechterung der Lebenslage verantwortlich. Selbst humanitäre UN-Organisationen widersprechen Moskaus und Washingtons Ansicht, dass es sich um „smarte Sanktionen“ handele, die der Bevölkerung nicht schadeten. Nach einer Studie des humanitären UN-Koordinationsbüros für Afghanistan (UNOCHA) wirkten sich schon die weitaus schwächeren Sanktionen vom November 1999 „indirekt“ auf die Lebenslage der Bevölkerung aus, vor allem indem sie ihr „Gefühl der Isolation“ und damit die Hoffnungslosigkeit verstärkten.

Vor 14 Monaten waren die Auslandsguthaben der Taliban eingefroren und alle Auslandsflüge der afghanischen Fluggesellschaft Ariana gestoppt worden. Seit gestern dürfen auch ausländische Fluglinien Afghanistan nur noch aus humanitären Gründen und für Pilger ansteuern und müssen dies vorher beim UN-Sanktionskomitee beantragen. Taliban-Minister und deren Stellvertreter dürfen nur noch aus ebendiesen Gründen sowie zu Friedensgesprächen ihr Land verlassen. Die Taliban-Büros im Ausland – darunter eines in Frankfurt am Main – werden geschlossen, ihre drei Botschaften in Islamabad, Riad und Abu Dhabi personell und im Rang reduziert, die Konten des von den Taliban beherbergten Islamisten-Chefs Ussama Bin Laden sowie seiner Organisation Al-Qaida („Die Basis“) eingefroren, und schließlich sollen die Taliban auch deren Ausbildungslager in Afghanistan schließen.

Kernstück der neuen Sanktionen ist jedoch ein einseitiges Waffenembargo gegen die Taliban, das ihre Opponenten von der Vereinigten Front (UF) unter Militärchef Ahmad Schah Massud ausnimmt. Schließlich darf auch Essigsäure-Anhydrid nicht mehr nach Afghanistan exportiert werden, eine für die Heroinraffinierung aus Opium unabdingbare Chemikalie. Afghanistan ist der weltgrößte Produzent von Rohopium – allerdings mit deutlich sinkender Tendenz, wie der Chef des UN-Drogenbekämpfungsprogramms Pino Arlacchi erklärte. Die Taliban verstehen die Welt nicht mehr. Sie führen den von Arlacchi bestätigten Trend zu Recht auf ein Dekret ihres großen Steuermanns Mullah Muhammad Omar zurück, der landesweit den Anbau von Opiummohn untersagte. Besonders verbittert sind sie, weil Arlacchis Report sich nicht im Text der Sicherheitsratsresolution vom 19. Dezember widerspiegelt, sondern ein angeblicher weiterer Produktionsanstieg als einer der Gründe für die neuen Strafmaßnahmen angeführt wird.

Beobachter in der Region sind der Auffassung, dass die neuen Sanktionen durchaus einen der Hauptgründe für den anhaltenden Krieg in Afghanistan beseitigen könnten: Pakistans umfangreiche militärische Unterstützung für die Taliban. Ohne die Waffen, Munition und Berater aus dem Nachbarland wären sie ihren Gegnern nicht mehr so deutlich überlegen und könnten sich wieder auf Verhandlungen besinnen. Bisher sind Moskau und Washington aber den Beweis dafür schuldig geblieben, dass sie genügend Geld für die kostspielige Überwachung der Sanktionen geben wollen. Ein Expertenkomitee, das Vorschläge dafür ausarbeiten soll, ist noch nicht einmal benannt.

Paula Newberg, die lange für eine humanitäre UN-Agentur in Afghanistan arbeitete, kommentierte jüngst in der Los Angeles Times, dass die USA und Russland Afghanistan in eine „diplomatische Voodoo-Puppe“ verwandelt hätten, „in die periodisch Nadeln gestochen werden, anstatt sich der schwierigen Arbeit zu widmen, dauerhaft Frieden herbeizuführen“. Diese „Nadeln“ sollen in der US-Variante Ussama Bin Laden treffen, die russischen die tschetschenischen und usbekischen Terroristen, die von Camps in Afghanistan aus agieren (siehe Kasten). UN-Generalsekretär Kofi Annan sieht das nicht grundsätzlich anders und erklärte, die Sanktionen beförderten weder die UN-Friedensbemühungen noch ihre humanitären Anstrengungen. Im Gegenteil: Die Taliban, das war vorauszusehen, nahmen die Sanktionen zum Vorwand, den gerade am Anfang stehenden, von der UNO vermittelten Dialog mit Massuds UF zu boykottieren. Zudem gerät angesichts des Reizthemas Terrorismus die tatsächliche schwarze Seite des Taliban-Regimes aus dem Blickfeld: die fast völlige Ausschließung der Frauen aus dem gesamten sozialen Leben, einschließlich des Bildungssystems und des Arbeitsmarkts. Durch das einseitige Waffenembargo fühlt sich auch Massud zu neuen militärischen Taten ermuntert. Afghanistan steht 2001 ein weiteres Kriegsjahr in Haus.

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