Doping – kein Thema für Familie Briesenick

Sara Briesenick ist Kugelstoßerin – wie ihre Mutter Ilona Slupianek. Diese war der erste Doping-Fall der DDR

Sportlich scheint der Weg vorgezeichnet. Sara Briesenick (15) möchte einmal bei Olympia „vorn dabei sein“, als Kugelstoßerin. Beruflich herrschen Zweifel. Vielleicht Pathologin, überlegt sie. Da könnte man herumschnippeln, ohne dass sich später jemand beklagt. Ihrer Mutter gefällt das gar nicht. Sie rollt mit den Augen, zieht die Augenbrauen hoch.

Es hat seine Geschichte, warum Ilona Slupianek-Briesenick ihrer Tochter vom Berufsstand des Mediziners abrät. Sie hat mit dieser Berufsgruppe einschlägige Erfahrungen gemacht. Keine andere Athletin wurde so früh so hoch dosiert vollgepumpt mit dem Mittel der Wahl im DDR-Dopingsystem – den kleinen blauen Pillen.

Der VEB Jenapharm produzierte das Medikament Oral-Turanibol auf Hochtouren, damit die Läufer durch Anabolika schneller rennen, die Disken weiter fliegen und die Überlegenheit der DDR-Sportler größer wurde. 1977, im noch nicht ausgereiften Stadium des staatlich kontrollierten Muskelaufbaus, kam es zum Ernstfall. Ilona Slupianek wurde beim Weltcup in Helsinki positiv getestet, ein so genannter Absetzunfall. Intern beschlossen die Funktionäre, die Kontrollen zu verschärfen. Kein Athlet reiste fortan ohne eine „Ausreisekontrolle“ ins „kapitalistische Ausland“. Nichts vom Steroidkonsum sollte mehr nach außen dringen.

Ilona Slupianek wurde nie wieder erwischt, obwohl ihre Dosen die männlicher Stoßer – relativ zum Körpergewicht – teilweise übertrafen und ein Arzt des Sportmedizinischen Dienstes in Leipzig deswegen Bedenken äußerte. Der erste Dopingfall der DDR wurde schlicht geleugnet. Die Athletin bekam einen Orden. Ihre Sperre wurde schnell aufgehoben. Ilona Slupianek trainierte weiter – und wurde Olympiasiegerin, Weltrekordlerin. Noch immer hält sie den Deutschen Rekord mit 22,45 Meter

Sara kommt zur Berliner B-Jugend-Meisterschaft nicht über 13,35 Meter hinaus und wird nur zweite. Vor einem Jahr war sie die Beste ihrer Altersklasse in Deutschland. Nun muss das Mädchen der LG Nike Berlin die 4-Kilo-Kugel wuchten, eine Umstellung für die blonde Schülerin, die trotz ihrer 1,75 m gedrungen wirkt. Trainer Werner Goldmann ist unzufrieden. „Sie lässt die Kugel nicht richtig kommen, rechts ist ne Pause drin“, sagt er.

„Es müsste im Kopp ma richtig Klick machen“, meint Saras Vater. Hartmut Briesenick ist auch Kugelstoßer gewesen. Europameisterschaften hat er gewonnen. Anfang der Siebziger.

Auch Goldmann klagt. „Damals“, erklärt er, „war alles wunderbar geordnet.“ Heute sei den jungen Sportlern kaum noch Begeisterung einzuimpfen. Die kämpften mit den Unwägbarkeiten des täglichen Lebens. Die nötige Konzentration für den Sport fehle. „Mensch, früher hat man die Quertreiber einfach von der Sportschule geschmissen“, weiß Briesenick. In einem Punkt allerdings herrscht partieller Erinnerungsverlust. Geht es um Doping in der jüngeren Vergangenheit, bölkt Goldmann, das sei doch Unsinn. Wolfram Briesenick sagt lieber gar nichts. Seine Frau meint: „Das ist kein Thema. Das hat mit mir nichts zu tun. Das haben andere entschieden. Das müssen andere klären.“

Sara erinnert sich an kein Gespräch über Doping im Familienkreis. Sportliches bespreche man ohnehin kaum. Sie glaubt ihrer Mutter, dass diese ihre Medaillen fair erkämpft habe. Jeder muss das mit seinem „Sportsgeist“ ausmachen, ob er zu Mittelchen greife, meint sie. „Ich würde so was immer ablehnen.“

Vor zwei Jahren hat sie mit dem Kugelstoßen begonnen. Ihre Bestleistung liegt bei 13,87 Meter. Mit der 3-Kilo-Kugel kam sie fast 16 Meter weit. Sie hat Talent, explosive Schnellkraft, alle Voraussetzungen, um sich durchzusetzen. Ihr Trainer zweifelt trotzdem. „Es wäre Scharlatanerie zu sagen, Sara wird mal eine Große“, sagt Werner Goldmann.

Vom Kugelstoßen kann niemand leben. Viele Talente springen spätestens in der A-Jugend ab, wenn sie sich für eine Ausbildung entscheiden müssen. Deswegen ist die Berufswahl ein entscheidendes Detail. Sara überlegt noch. Ein Studium wäre nicht übel. Da bliebe mehr Zeit zum Training. Sie hat eine Idee: „Psychologie.“ Psychologie? „Genau. Das ist immer gut.“ Der Vater guckt interessiert. Ilona Slupianek-Briesenick zieht die Mundwinkel nach unten. MARKUS VÖLKER